Bleischwer
überlassen. Sie
blendete alles Denken aus, beschränkte sich aufs Fühlen und Empfinden. Haut auf
Haut, Hitze, anschwellen, flüssig werden. Als sie später auf seinem schmalen
Bett in seinen Armen lag, war sie völlig entspannt. Draußen hatte der Wind an
Stärke zugenommen. Wütend rüttelte er an dem Holzbau und kroch kalt durch die
Ritzen. Michael warf die Bettdecke über sie beide. Dann löschte er wie
selbstverständlich das Licht. Das Heulen des Sturms begleitete sie in den
Schlaf.
Der Traum fiel sie an wie ein
Raubtier. Bedrohlich und brutal. Nach außen hin schien es eine friedliche Szene
zu sein, in die Jule hineingestoßen worden war. Aber sie spürte das Grauen, das
alles durchdrang.
Zu
Beginn stand das pure Verlangen.
Jule
wollte Kirschen. Nicht morgen, nicht später, sondern jetzt. Sofort. Mit
kindlicher Ungeduld. Sie stampfte sogar mit dem Fuß auf. Die Oma seufzte. Sie
fühlte sich nicht wohl, das wusste Jule. Die Oma hatte einen schlimmen Husten.
Aber was hieß das schon? Die Oma war stark. Eine Erkältung konnte der doch
nichts anhaben! Also quengelte Jule weiter.
»Ich
komm an die Kirschen nicht ran, Omi.« Demonstrativ hüpfte sie in die Höhe und
reckte die Ärmchen nach oben. »Guck mal, ich schaff es nicht.«
Wieder
sprang sie. Die Oma seufzte.
»Nein,
da kommst du nicht ran«, bestätigte sie. »Die Zweige sind viel zu hoch, und an
den unteren hängen sowieso keine Kirschen mehr. Die haben wir alle schon
abgepflückt.« Sie hustete, holte rasselnd Luft und fuhr fort: »Ich müsste
hinauf in den Baum steigen.«
»Au ja!
Komm, wir holen die Leiter, ich halte sie fest und du kletterst nach oben. So,
wie wir es im letzten Jahr gemacht haben. Bitte, bitte, bitte!«
Natürlich
ließ Oma Maiwald sich erweichen, obwohl Jule merkte, dass es ihr eigentlich
nicht recht war. Aber warum bloß? Die Oma konnte super klettern. Und es würde
doch ganz schnell gehen, die Kirschen zu pflücken. Opa und Mama, die bestimmt
sonst schimpfen würden, waren noch nicht von ihrem Waldspaziergang zurück.
Die
Sonne stand hoch am Himmel, der hellblau und verheißungsvoll durch die Zweige
des Kirschbaums hindurch leuchtete. Eifrig half Jule der Oma, die sperrige
Holzleiter aus dem Anbau zu schleppen und an den Stamm des Kirschbaums zu
lehnen. Jule rannte noch einmal zurück, um ein Körbchen zu holen. Bald
umklammerten ihre kleinen Hände die Leiter, während die Oma oben im Geäst, von
Zweigen und Blättern verdeckt, die Kirschen pflückte.
»Oh,
hier hängen aber noch viele!«, rief sie nach unten. »Dick und rot sind sie,
wirst sie ja gleich sehen! Hab schon den halben Korb … « Der
Rest ging im Husten unter. Jule konnte es kaum erwarten. Ungeduldig trat sie
von einem Bein auf das andere, während sie gewissenhaft die Leiter festhielt.
Deshalb verstand sie auch gar nicht, wie die auf einmal ins Wanken geraten
konnte. Sie packte fester zu, aber die Leiter kippte zur Seite und Jule wurde
mitgerissen. Gleichzeitig purzelte etwas durch das Grün des Kirschbaumes nach
unten. Der Korb! Eine Flut aus roten Kirschen sprang heraus wie Flummis.
Gleichzeitig brachen Zweige, Blätter rieselten, die Leiter krachte auf die
Wiese. Jule stürzte. Sie hörte einen Schrei, dann einen Aufprall. Am Ende
Stille. Die Stille war das Schlimmste.
Die
fallende Leiter hatte Jule den Arm verdreht. Das tat weh. Sie weinte. Die
dunklen Haare hingen vor ihrem Gesicht und tauchten die Welt in einen gnädigen
Schleier.
»Omi!«,
jammerte sie schluchzend. Keine Antwort. Sie rappelte sie sich auf. »Omi«, rief
sie erneut und schaute sich blind vor Tränen um. Mitten im Gras nahm sie einen
dunklen Haufen wahr. Jule krabbelte näher heran. Jetzt erst erkannte sie, dass
es Oma Maiwald war. Die sich nicht regte. Die die Augen geschlossen hatte.
»Omi!«,
schrie sie verzweifelt und rüttelte an einem leblosen Arm. »Omi!«
Jule riss die Augen auf und
stierte blind in die Dunkelheit. Panik und Schuld steckten ihr noch in den
Knochen. Ihr Herz pochte wie verrückt. Nur ein Traum, redete sie sich ein. Ein
verdammter Albtraum, der dich quälen will. Es ist zwar passiert, aber vor
langer Zeit. Und du warst ein Kind. Ein Kind von acht Jahren. Unschuldig. Oder?
Aber
natürlich glaubte sie das nicht wirklich. Selbstverständlich trug sie die
Schuld am Tod von Oma Maiwald. Sie hatte die alte Frau genötigt, eine steile,
wackelige Leiter hinauf zu klettern. Sie hatte sie dazu gezwungen und deshalb
war sie gestürzt. In den sicheren Tod. Jule
Weitere Kostenlose Bücher