Bleischwer
hatte sie zunächst mit Gerti, anschließend mit Jana
telefoniert. Es fiel ihr schwer, der alten Frau den Aufenthaltsort ihres Großneffen
zu verschweigen. Denn Gerti und Hermann Weyers waren natürlich immer noch in
größter Sorge um ihn.
Stattdessen
klärte sie alle Eventualitäten wegen des Brandes, wie Jörg ihr telefonisch
geraten hatte. Am Schluss dankte sie Gerti für ihre Hilfe und versprach, in
Ruhe zu überlegen, was sie in Zukunft mit dem Stellplatz machen wolle.
Das
Gespräch mit ihrer Schwester dauerte nur wenige Minuten. Es ging Jule einzig
und allein darum zu verhindern, dass Jana weiter im Haus der Mutter nach dem
Rechten sah.
»Ich
bin wieder da und noch krank geschrieben«, fasste sie betont munter zusammen.
»Aber eigentlich bin ich topfit. Ab jetzt kann ich bei Mama die Blumen gießen
und die Fische füttern. Mach ich gerne, echt. Du hast genug Stress mit den
Zwillingen. Ach ja, und in die Eifel fahr ich gar nicht persönlich. Hermann
beauftragt eine Firma für die Räumarbeiten, sobald der Gutachter da war. Ist eh
alles zerstört. Zu retten gibt’s nichts mehr, nicht mal das kleinste Foto oder
Geschirrteil. Klar ist das traurig, aber schlimmer wäre noch, wenn ich mir die
Trümmer selber ansehen müsste. Der Abstand tut eher gut, weißt du.«
Gekonnt
spielte sie der jüngeren Schwester eine Abgeklärtheit vor, die sie nicht
empfand.
Nach
den Telefonaten duschte sie ausgiebig. Unter heißen, prasselnden Wasserstrahlen
konnte sie sich schnell der Illusion hingeben, dass Gefühlsverirrungen
abwaschbar sind. Jule spülte sich mit Inbrunst alle zärtlichen Regungen
hinsichtlich Michael Faßbinder vom Leib. Er berührte sie tief in ihrem
geheimsten Wesen, das war schrecklich. Jörg, dachte sie krampfhaft. Jörg. Jörg.
Jörg.
Natürlich
merkte ihr Mann, dass etwas nicht in Ordnung war. Im Bett erst, aber immerhin.
»Was
ist los mit dir?«, fragte er in die Dunkelheit des Schlafzimmers hinein. »Du
bist nicht bei der Sache, oder?« Fortwährend streichelte er Jules nackten Po.
»Nicht
ganz«, wisperte sie verlogen zurück und stoppte rigoros seine Hand mit der
ihren. »Liegt bestimmt an dem Feuer im ›Eifelwind‹. Kann mich einfach nicht
konzentrieren.«
»Okay,
verstehe ich«, murmelte Jörg, drehte sich auf die Seite und kuschelte sich
schlaftrunken an sie. »Ist ja auch ne böse Sache, das. Gute Nacht, Süße. Schlaf
schön.«
»Du
auch.«
Unzufrieden
mit sich selbst, ihren Ansprüchen an das Leben und der Welt im Allgemeinen
schlief Jule ein.
Im
Traum war sie wieder am Angelsee. Tiefschwarze Nacht. Schneefelder. Sturm.
Stefan Winter mit stumpfen Augen auf dem Rücken liegend. Blut unter dem
Hinterkopf. Bloßes Haar, das im Wind weht. Wimpern, in denen Schneeflocken
hängen. Hände, nackt, wächsern, erstarrt. Irgend etwas war falsch. Ganz und
gar. Das hatte sie die ganze Zeit gewusst. Mit klopfendem Herzen wachte sie
auf, fühlte sich allein. Micha, wo bist du? Und mit diesem Verrat im Herzen
fiel sie erneut in Tiefschlaf.
Jörg war bereits fort, als sie
erwachte. Zwielicht bahnte sich seinen Weg zum Ehebett. Müde und zerschlagen
kämpfte Jule sich aus der Decke. Ihr Rücken schmerzte bei jeder Bewegung. Hatte
sie sich im Schlaf zu sehr verspannt? Ihr fiel der Traum ein und das Gefühl der
Irritation, das darin vorgeherrscht hatte. Doch so sehr sie sich anstrengte,
den Grund dafür kriegte sie nicht zu fassen.
Schließlich
gab sie die Grübeleien auf. Sie wusch sich, kleidete sich sorgfältig an und
kämmte das störrische Haar. Bald saß sie mit einem heißen, cremigen Kaffee
bewaffnet in der offenen Küche und schaute aus dem Fenster in den Garten
hinaus. Der Frühling kam mit aller Macht. Krokusse reckten ihre Köpfe aus der
dunklen Erde; gelbe Narzissen öffneten die gelben Blüten. Über allem lag der
glitzernde Schleier feinen Sprühregens. Leben pur. Tod und Verderben schienen
weit weg zu sein.
Trotzdem
ließ sich das Bild von Stefan Winters Leiche, halb mit Schnee bedeckt, nicht
bannen. Entschlossen stellte sie den Kaffeebecher ab und ging zur Anrichte, um den
Laptop zu holen. Sie trug ihn auf die Küchentheke und loggte sich ins Internet
ein.
Sonja
Bohrs Schwester hieß Melanie mit Vornamen, daran hatte Michael sich erinnert.
»Aber
sie hat geheiratet, da heißt sie sicher nicht mehr Pütz. Es wird schwierig sein,
sie in Kaarst ausfindig zu machen.«
Jule
versuchte es dennoch.
›Melanie
Pütz, Kaarst‹ gab sie in die Suchzeile des virtuellen Telefonbuchs ein.
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