Bleischwer
Banküberfall von 1987 zu
suchen. Tatsächlich, Leos Vater war Stefan Winters Verteidiger gewesen. Na ja,
viel hatte er für seinen Mandanten nicht herausgeholt, eigentlich gar nichts.
Denn eine schwerere Strafe als die, die Stefan bekommen hatte, gab es in
Deutschland nicht.
Der
Mord an dem Polizisten war eingestuft worden als berechnend, äußerst brutal und
kaltblütig, las Jule. Stefan selbst hatte rein gar nichts dazu sagen können.
Zum Zeitpunkt des Prozesses litt er an einer vollständigen Amnesie bedingt
durch das wochenlange Koma nach dem Schuss in die Lunge. Man legte ihm sogar
dies zum Nachteil aus: Verstockt sei er, ohne ein Fünkchen von Reue. Und dass
er den Namen seines Komplizen nicht verraten wollte, gab ihm den Rest. Die
Richter kannten keine Gnade. Das Urteil wurde nach wenigen Prozesstagen
verhängt.
Obwohl
der Verurteilte aufgrund der Schussverletzung kaum laufen konnte, führte man
ihn in kompletter Fesselung – Hand-und Fußketten – aus
dem Gerichtssaal. Jule schaute sich die grobkörnigen Fotos genau an, die ein
Fotograf im Flur des Gerichtsgebäudes geschossen hatte. Stefans
Gesichtsausdruck war maskenhaft starr, wie unter Schock. Er tat ihr leid. Die
besondere Schwere der Schuld … Wer maßte sich an, die zu
beurteilen?
Außer
man fühlte sie selbst. Vor Jules innerem Auge erschien der leblose Körper von
Oma Maiwald neben dem Kirschbaum. Sie erinnerte sich, wie ihr Rocksaum im
Sommerwind geweht hatte. Und überall im Gras lagen die dunkelroten, saftigen
Kirschen. Habgier hatte sie dazu getrieben, die Oma auf die Leiter zu zwingen.
Außerdem regte sich noch etwas Tieferes in ihr. »Nur wegen dir … « hörte
sie eine hasserfüllte, verzweifelte Stimme. Jule presste kurz die Augen
zusammen, atmete tief durch und verbannte unter großer Anstrengung die
schemenhafte Erinnerung aus dem Bewusstsein.
Stattdessen
konzentrierte sie sich wieder auf das Zeitungsfoto. Im Hintergrund, halb von
den SEK-Leuten verdeckt, entdeckte sie einen älteren Mann mit Schnäuzer in
schickem Anzug. Das musste Anwalt Fröhlich sein. So weit, so gut.
Doch
plötzlich stockte ihr der Atem, denn daneben blickten ihr zwei junge Männer
entgegen; einer lächelte breit. Jule fasste es nicht. Das Grinsegesicht gehörte
zweifellos Peter Odenthal, das andere, ernstere, Leo. Wie alt waren die beiden 1987? Sie mussten Anfang 20 und
mitten im Jurastudium gewesen sein. Aber was hatten sie auf dem Foto zu suchen?
Hatten sie dem Prozess aus reiner Neugier beigewohnt? Jule schüttelte ratlos
den Kopf. Das gibt’s doch gar nicht, dachte sie. Was für ein Zufall. Ein kalter
Schauder lief ihr den Rücken herunter.
Michael
Faßbinder hatte vielleicht gar nicht so unrecht mit seiner Theorie, dass Peter
Odenthal hinter den Verbrechen in der Eifel steckte. Habgier nach 600.000 DM
konnte ein überzeugender Beweggrund für zwei Morde und eine Brandstiftung sein,
oder? Wenn man wusste, wo man die Scheine noch in Euros umtauschen konnte. Aber
ein versierter Geschäftsmann wie Peter kannte sich da sicher aus.
Habgier,
oh ja, das war ihr ein Begriff. Unbehaglich betrachtete sie die glatten
Gesichter von Jörgs besten Freunden und fragte sich, ob die beiden womöglich
gemeinsam Jagd auf die Beute aus dem Bankraub gemacht hatten. Laut Michaels
Erzählung hatte eine männliche Stimme in der Kanzlei Fröhlich versucht, ihn zu
erpressen, als er nach dem Prozess den Tathergang richtigstellen wollte. Ob das
Leo gewesen war? Und du, Jörg, fragte sie sich still, hängst du etwa mit drin?
Der Gedanke war zu ungeheuerlich, um ihn zu Ende zu führen.
Der
Klingelton ›Strangers in the night‹ kündigte den Anruf einer ihr unbekannten
Nummer an. Stirnrunzelnd schaute Jule auf die Ziffernfolge. Eine Festnetznummer
aus Kaarst. Mmm, wer das wohl sein konnte so spät? Es war schon nach 21 Uhr.
Schnell ging sie dran.
»Hi
Jule, ich bin’s, Melanie«, klang es ihr atemlos entgegen. »Mir ist etwas
eingefallen, das meine Schwester betrifft. Ich weiß nicht, ob es wichtig ist … «
»Nun,
du würdest mich nicht anrufen, wenn du nicht das Gefühl hättest«, ermutigte
Jule sie. »Was ist es denn? Schieß los.«
»Bevor
Sonja Kontakt mit Stefan in der JVA Ossendorf aufnahm, hatte sie was mit dem
Dorfcasanova. Direkt nach der Trennung von Jürgen Bohr war das, na ja,
vielleicht sogar schon vorher.«
Jule
war verwirrt.
»Dorfcasanova?
Wen meinst du damit?«
»Na,
den Sheriff, du weißt schon, den mit den Rasierklingen unter den Armen. Die
beiden
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