Bleischwer
zulassen, dass man ihn ein zweites Mal
verhaftet wegen einer Sache, die er nicht getan hat.«
Jana
war offenbar immer noch schockiert von der Kaltblütigkeit ihrer Schwester. Sie
schnappte nach Luft und strich sich mit zitternden Fingern einige Haarsträhnen
aus dem Gesicht.
»Okay«,
sagte sie schließlich leise. »Ich verrate nichts. Aber länger als eine Woche
bleibt der Penner nicht in diesem Haus. Ist er dann nicht weg, geh ich zur
Polizei.«
»Einverstanden.«
Ein vorsichtiges Lächeln bog Jules Mundwinkel leicht nach oben. »Bis dahin
wissen wir hoffentlich mehr.«
Jana
schnaubte und wandte sich dem Hausflur zu. Sie war gerade erst ein paar
Schritte gegangen, als Michael ihr nachlief. Zaghaft berührte er ihren Arm.
»Danke«,
murmelte er.
Doch
Jana stieß seine Hand weg und marschierte Türen knallend aus dem Haus. Sekunden
später hörte man ihren Golf-Kombi davonfahren.
Eine Weile standen sie
unschlüssig im kalten Flur herum. Irgendwann regte Michael sich. Zögernd trat
er auf Jule zu und nahm sie in die Arme. Erst versteifte sie sich, bald aber
konnte sie nicht mehr anders und erwiderte die Umarmung. Es tat so gut. Nur als
er sie küssen wollte, wehrte sie sich.
»Freundschaft«,
flüsterte sie. »Mehr kann ich dir nicht anbieten. Bitte, mehr nicht.«
Jörg rief an, um seiner Frau zu
sagen, dass es spät werden würde. Viel zu viel Arbeit für viel zu wenig Zeit.
Jule kannte das. Sie entkorkte einen Gran Reserva und setzte sich mit Glas, Flasche
und Laptop auf die Couch. Der Kamin züngelte heimelig, als sie sich durchs
Internet googelte. Stefan Winters Vergangenheit interessierte sie. Über die
Hälfte seines Lebens hatte er im Gefängnis verbracht. Unerträgliche
Haftbedingungen und die Aussicht, bis zum Tode eingesperrt zu werden, hatte er
neben dem Wunsch, mit Sonja zusammen zu sein und ihr zu helfen, als Grund für
seinen Ausbruch genannt.
Nach
wenigen Minuten des Surfens kam sie sich dekadent und scheinheilig vor. Der
Wein schmeckte nicht mehr. Hier saß sie, von Luxus umgeben und im Bewusstsein
ihrer Freiheit gemütlich da und erhielt Einblick in eine Welt, in der nicht nur
totale Entmündigung, sondern vor allem Gewalt, Hoffnungslosigkeit und Verfall
herrschten. Wie Stefan gesagt hatte. Das war nicht der menschliche und
fortschrittliche deutsche Strafvollzug, den sie sich in ihrer Naivität
vorgestellt hatte. Desolate Bedingungen waren es, unter denen mancherorts
Lebenslängliche und Sicherungsverwahrte in denselben Häusern der JVAs
weggeschlossen wurden.
Die
Zellen der Häftlinge waren zugestopft und dreckig. Die Insassen verwahrlosten
und stumpften ab. Oft gab es keine Möglichkeit zu arbeiten oder an Therapien
teilzunehmen. Mittellose Gefangene prostituierten sich. Einige vegetierten
unter verschärften Haftbedingungen 23 Stunden täglich allein in der Zelle dahin, teils sogar
jahrzehntelang. Andere verlegte man alle paar Jahre in eine andere Haftanstalt,
ebenfalls isoliert von menschlichen Kontakten. Diese ›Verschubungen‹ sollten
verhindern, dass die als gefährlich oder fluchtbereit eingestuften Häftlinge
Beziehungen zu Beamten oder Mitgefangenen aufbauten. Die Konsequenz:
Verbitterung und Vereinsamung. Keine Spur von Resozialisierung.
Und
einen Gesprächstermin bei einem Psychologen oder Sozialarbeiter zu bekommen?
Kaum möglich aufgrund des rigiden Stellenabbaus und der daraus resultierenden
Überlastung der Angestellten.
Indes
häuften sich die Krankmeldungen unter den Justizvollzugsbeamten. Zu viel Arbeit
und zu hoher, psychischer Druck. Das hielt niemand lange aus und machte mürbe.
So erfuhr Jule, dass es keine Seltenheit war, wenn sich das überarbeitete
Wachpersonal durch Korruption an den Häftlingen bereicherte und einen
schwunghaften Handel mit Handys oder Drogen betrieb. Über dreißig Prozent aller
Strafgefangenen in deutschen Gefängnissen waren süchtig; viele kamen erst in
der Haft mit Drogen in Kontakt, weil sie Mittel und Wege suchten, dem
trostlosen Alltag zu entfliehen. Jule versuchte, sich in Stefan Winters Lage zu
versetzen. Kein Ende der Gefangenschaft in Sicht, das Gefühl, bis zum Tod
kaltgestellt zu werden. Sie konnte seinen Ausbruch verstehen. Und seine
Verzweiflung.
Sie
rief sich in Erinnerung, wie Melanie Pütz-Coenen ihn aus der Erinnerung
beschrieben hatte: Lustig, waghalsig, cool. Auf Jule hatte er lediglich den
Eindruck eines gebrochenen Mannes gemacht. Kein Wunder.
Sie
begann, nach alten Artikeln über den Euskirchener
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