Blessed - Für dich will ich leben (German Edition)
der Flucht zu sein.
Ich blieb noch eine Weile auf dem Absatz vor unserer Haustür stehen und wartete auf das tiefe, unverkennbare Motorbrummen des Amaroks. ... Vergeblich.
X IX.
Stunden später schreckte ich aus einem Schlaf, der mir traumlos erschienen war. Dementsprechend konnte ich mir nicht erklären, was den glasklaren Gedanken an die Oberfläche befördert hatte. Aber was es auch war – die Erinnerung war mit einem Mal so präsent, dass sie einer Gewissheit glich. „Das habe ich nie gesagt!“, rief ich aus. Meine Stimme klang zu laut. In der Dunkelheit meines Zimmers hallte sie förmlich von den Wänden wider. Ich rieb mir über die Augen, setzte mich auf und überlegte noch einmal genau.
Ich sah uns vor mir, Noah und mich, am Abend der Party in seinem Zimmer. Meine Forschheit hatte ihn aufgeschreckt; er war haltlos auf - und abgewandert. „Was passiert hier gerade, Emily?“ , hatte er gefragt und dann zaghaft meine Hand berührt.
Und ich hatte in Gedanken entschieden, dass Gegenfragen manchmal die besseren Antworten wären und mit einem „Finden wir es heraus?“ geantwortet.
Ausgesprochen hatte ich diesen Gedanken nie, obwohl Noah das vorhin so behauptet hatte. Und davor schon einmal.
Das Bild vor meinem geistigen Auge wandelte sich. Es zeigte wieder uns beide, nun jedoch auf dem großen Felsbrocken am Rande der Straße, nur ein paar Meter von meinem zerquetschten Mini entfernt. Noah hielt mich mit zittrigen Händen in seinem Schoß – ähnlich wie an diesem Abend, wenige Stunden zuvor.
„Wieso bist du eigentlich hier?“ , hatte ich ihn gefragt.
Seine Miene verfinsterte sich unter den Worten „Du hast mich gehört, nicht wahr?“
„Du antwortest mit einer Gegenfrage“ , erwiderte ich – unwillig, auf seine Ablenkung einzugehen.
Und dann sagte er es zum ersten Mal: „Das sind manchmal die besseren Antworten. Hast du selbst gesagt.“
... Nein, hatte ich eben nicht!
Ich knipste das Nachtlicht an, sprang auf, verhedderte mich in meinem Laken und stolperte beinahe. Raufte meine zotteligen Haare und lief ebenso haltlos hin und her, wie Noah es nur wenige Sekunden zuvor noch in meinen Erinnerungen getan hatte.
Nein, ich war mir sicher – absolut sicher!
„Das habe ich nie gesagt! Ich habe es nicht ausgesprochen“, murmelte ich wie zur Bestätigung noch einmal vor mich hin.
Aber wie konnte er das dann behaupten? ... Zweimal?
Erwartungsgemäß fand ich die Antwort nicht in meiner nächtlichen Wanderung, also legte ich mich nach einer Weile zurück auf mein Bett und starrte an die Zimmerdecke. Mit einem Mal musste ich daran denken, wie sicher und zielgenau Noah bei unserem Abschied, nur wenige Stunden zuvor, meinen unausgesprochenen Gedanken beantwortet und seinen Geistesblitz dann sofort meiner angeblich eindeutigen Mimik zugeschrieben hatte . „Klar bist du leicht zu durchschauen.“
Diese Überlegung zog weitere Erinnerungen nach sich.
„Wollen wir zum Baumarkt fahren und Farbe kaufen?“ , hörte ich ihn fragen. Genau das hatte ich mir nur eine Sekunde zuvor ausgemalt.
„Elende Lügnerin!“ , hörte ich ihn dann rufen und sah in meinen Erinnerungen noch einmal sein halb empörtes Lachen, als Reaktion auf meine Behauptung, ich hätte die Mathehausaufgaben verstanden. Wie hatte sich Noah so sicher sein können, dass ich log? Okay, meine nicht vorhandenen Mathematikkenntnisse hatten vermutlich für sich gesprochen, aber die anderen Situationen erklärte das nicht.
Irgendwie setzte sich in meinem Kopf eine gedankliche Lawine in Bewegung, ausgelöst durch die Ungereimtheiten, die mein Unterbewusstsein immer weiter explosionsartig zutage beförderte. Plötzlich, sobald ich die vage Idee zuließ, ergaben Noahs Reaktionen, die oft fehlplatziert und den jeweiligen Situationen nicht angemessen gewirkt hatten, durchaus Sinn – wenn ich sie auf meine Gedanken bezog. Aber wie konnte das sein? So etwas gab es nicht, das war doch Blödsinn. Niemand konnte Gedanken lesen. Dennoch – die Lawine rollte unaufhaltsam weiter, nährte sich an vielen kleinen Erinnerungen, wuchs und wuchs und hämmerte schließlich schmerzhaft gegen meine Schläfen.
Na toll, jetzt hatte ich Kopfschmerzen.
Wie auch immer! Selbst wenn ich mich mit dieser Theorie, Noah könnte aus einer übermäßigen Empathie heraus erahnen, was ich dachte oder gar wie ich mich fühlte, viel länger beschäftigte, als es meinem sonst so rational denkenden Naturell entsprach – es gab ja doch keine Möglichkeit, ihn darauf
Weitere Kostenlose Bücher