Blessed - Für dich will ich leben (German Edition)
fassungslos an, unfähig etwas zu erwidern. Lucy fuhr auch ohne eine Reaktion von mir fort. Inzwischen war der Frohsinn aus ihrem hübschen Gesicht gewichen und hatte tiefer Sorge Platz gemacht. „Er quält sich, weißt du? Scheinbar denkt er, er verdiene kein Glück in diesem Leben. Und wir kommen einfach nicht dahinter, warum.“ Ihr Blick wirkte unsicher, doch hinter ihren Worten verbarg sich ein leiser Hoffnungsschimmer, das spürte ich deutlich.
„Seine leiblichen Eltern ...?“, stammelte ich. Es dauerte ein paar Sekunden, dann nickte sie.
„H aben bestimmt etwas damit zu tun, ja. Mein Dad hat einmal erwähnt, dass Noahs Stiefvater im Knast ist.“ Sie senkte den Kopf. „Ich weiß nichts Genaues, aber ich denke, er hat Noah misshandelt.“
Oh, mein Gott!
Etwas in der Art war mir auch schon durch den Kopf geschossen – eine unter tausend Mutmaßungen –, doch dieselbe Vermutung aus Lucys Mund zu hören, machte sie fast schon zu einer Gewissheit. Mit Noahs perfektem Gesicht vor Augen, brach sie mein Herz. Wie von selbst pressten sich meine Hände gegen meinen Burstkorb.
Lucy zögerte. Stumm sah sie mich an – offensichtlich unschlüssig, ob sie weitersprechen solle.
„Bitte!“, hauchte ich. Meine Augen stachen, bevor nur wenige Wimpernschläge später die ersten Tränen überliefen. Lucy sah mich eindringlich an; meine Gefühle schienen sie zu verwirren. Doch dann, endlich, sprach sie weiter.
„Wie gesagt, ich weiß nicht viel. Als Adrian seinen Unfall hatte, lag Noah im Krankenhaus neben ihm. Er hatte schlimme Verletzungen, steckte von Kopf bis Fuß in Verbänden. Und er sprach nicht. Ich meine ... nie . Meine Eltern beobachteten, dass er wochenlang keinen Besuch bekam und erkundigten sich bei den Ärzten, die natürlich schweigen mussten. Besonders meine Mom hat sich in dieser Zeit sehr um Noah gekümmert. Sie versuchte sich ihm zu nähern, doch er ließ das nicht zu. Damals ...“
Die Art, wie Lucys Blick mit einem Mal ins Leere ging, ließ mich spüren, dass sie in diesen Sekunden sehr weit weg war. Mir ihr elfjähriges Ich vorzustellen, wie sie im Krankenhauszimmer ihres schwerverletzten Bruders saß und den eigenartigen stummen Jungen im Nachbarbett mit größter Neugier beobachtete, war erschreckend leicht.
„Damals wirkte Noah vollkommen anders als jetzt“, sagte sie leise. „Sobald man ihn ansprach, zuckte er zusammen und wandte sich ab. Er weinte viel und schrie in den Nächten immer wieder ganz furchtbar auf. Meine Mom, die ab und zu bei Adrian übernachtete und dadurch all das mitkriegte, machte Noahs Verhalten fast verrückt. Sie fühlte sich von Anfang an eng mit ihm verbunden und wollte ihm helfen. Etliche Monate später, kurz vor Adrians Entlassung, kam der Chefarzt auf meine Eltern zu und erzählte ihnen, sie würden nach Pflegeeltern für Noah suchen. Ich weiß, dass meine Eltern Einsicht in seine Akte erhielten und seitdem wissen, was mit ihm geschah, aber Adrian und mir haben sie es nie erzählt. Sie sind der Meinung, dass es an Noah selbst ist, uns einzuweihen. Oder eben nicht.“
Lucy sah traurig aus. Ohne jeden Zweifel liebte sie Noah wie einen echten Bruder, und natürlich sehnte sie sich danach, seine Geschichte zu erfahren, auch wenn die Furcht vor der Wahrheit vermutlich genauso groß war wie das Verlangen danach. Lucy blinzelte einige Male schnell hintereinander, bevor sie fortfuhr.
„Kurz bevor Noah zu uns kam, belauschte ich ein Gespräch zwischen unseren Eltern. Sie saßen über irgendeiner Mappe ... mit Bildern, nehme ich an. Mein Dad sagte, er habe noch nie etwas vergleichbar Schlimmes gesehen. Meine Mom weinte nur. Sie wirkte vollkommen aufgelöst und sagte: Hol ihn zu uns, Joe. Der Junge braucht endlich ein gutes Zuhause. Und ich möchte ihn hier haben, bei uns. “
Lucy schnappte aus ihrer Erinnerung und zuckte mit den Schultern. „Nur deswegen weiß ich, dass es um Noah ging. Zwei Wochen später brachte ihn mein Dad zu uns. Am Anfang war Noah einfach nur still und wahnsinnig schüchtern. Mein Vater schärfte uns ein, ihn nicht anzufassen, und wir hielten uns an diese Regel, auch wenn wir sie nicht nachvollziehen konnten. Diese erste Zeit war furchtbar, denn die komplette Familie musste lernen, mit Adrians neuer Situation umzugehen. Und Noah ließ sich nicht integrieren, so sehr wir uns auch bemühten. Wir wollten ihn in unserer Familie, aber er blockte alle Annäherungsversuche bereits im Ansatz ab und zog sich immer weiter zurück. In der Schule,
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