Blick in Die Angst
einem Leben nach dem Tod. Sie war auf der Suche nach Antworten, und ich hatte sie ihr nicht gegeben – zumindest nicht die, die sie hören wollte. Wenn sie bereits in der Kommune war, könnte ich sie dann überzeugen, sie wieder zu verlassen? Sie war volljährig, so dass die Polizei mir nicht helfen würde. Dann schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass Aaron es möglicherweise ausdrücklich auf meine Tochter abgesehen haben könnte. Ich hatte Anzeige erstattet und mich mit ehemaligen Mitgliedern unterhalten. Außerdem hatte ich Mary und Tammy erzählt, dass meine Tochter auf der Straße lebte. Was, wenn sie noch mit jemandem in der Kommune Kontakt hatten? Würde Aaron Lisa benutzen, um mich zu manipulieren?
Ich zwang mich zur Ruhe. Immer eins nach dem anderen. Alles, was ich hatte, war dieser Prospekt, den Lisa sonst wo eingesteckt haben könnte. Ehe ich mich in wilden Spekulationen erging, musste ich herausfinden, ob sie überhaupt in der Kommune war oder wieder auf der Straße lebte. Ich erwog, im Zentrum anzurufen, entschied mich jedoch, zuerst mit Tammy zu reden.
Sie ging ans Telefon, nachdem sie es ein paarmal hatte klingeln lassen. Ich kam sofort zur Sache. Als ich kurz geschildert hatte, worum es ging, fragte ich: »Haben Sie zufällig Nicole von meinem Besuch erzählt?« Ich achtete sorgfältig darauf, höflich und keinesfalls anklagend zu klingen.
»Nein, ich haben Ihnen doch gesagt, dass ich seit Jahren nicht mehr mit ihr geredet habe. Niemand dort drin darf ein Handy besitzen oder einen E-Mail-Account. Wenn sie nach draußen telefonieren wollen, müssen sie das Telefon im Hauptraum benutzen – und sie brauchen eine Erlaubnis. Selbst wenn ich eine Nachricht hinterlassen hätte, hätte sie wahrscheinlich nicht zurückgerufen. Ich habe niemandem erzählt, dass Sie hier waren.«
Also hätte auch Mary niemanden im Zentrum anrufen können.
Ich dachte laut nach. »Wenn ich in der Kommune anriefe, würde man mir dann sagen, ob Lisa dort ist?«
»Nein, sie nehmen den Schutz der Privatsphäre ihrer Mitglieder sehr ernst.«
»Wenn sie in die Kommune geht, könnte wer weiß was passieren. Sie ist gerade aus dem Krankenhaus gekommen.« Ich dachte an Aarons Ansichten über die moderne Medizin. Falls Lisa noch unter irgendwelchen Nachwirkungen ihrer letzten Überdosis zu leiden hatte, würde man dort Hilfe für sie holen? Ich sagte: »Es geht ihr nicht gut, und sie braucht jemanden mit einer medizinischen Ausbildung.«
»Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.«
»Danke, aber das Einzige, was wirklich helfen würde, wäre, wenn man den ganzen Laden einfach dichtmachen könnte. Und ich weiß auch nicht, wie wir das schaffen sollen.«
Ich hörte, wie sie am anderen Ende der Leitung vernehmlich ausatmete. Dann sagte sie: »Ich habe viel nachgedacht, seit Sie hier waren.«
»Und?«
Ihre Stimme klang kräftiger, als sie sagte: »Ich will eine Aussage machen.« Sie wurde wieder leiser. »Aber wenn wir es machen, muss ich dann vor Gericht aussagen? Ich will ihn nicht ansehen müssen, wenn ich darüber rede, was er getan hat. Als ich aus dem Zentrum weggegangen bin, war ich eine Zeitlang ziemlich durch den Wind und habe viel getrunken. Ich will nicht, dass irgendein Rechtsanwalt mir das Gefühl gibt, ein Stück Dreck zu sein, oder dass die Medien mich auseinandernehmen. Ich habe jetzt ein Kind.«
»Wenn der Staatsanwalt beschließt, Anklage zu erheben, lässt sich möglicherweise etwas arrangieren, damit Sie nicht vor Gericht erscheinen müssen.«
Ein weiteres tiefes Ausatmen. »Ich mache es, aber ich muss es zuerst meinem Mann sagen. Er arbeitet im Moment nicht in der Stadt, ich kann also erst in ein paar Tagen mit ihm sprechen. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich mit der Polizei gesprochen habe.«
»Danke, ich weiß das wirklich zu schätzen.« Ich atmete ebenfalls vernehmlich aus. Endlich kamen wir weiter.
»Viel Glück, dass Sie Ihre Tochter finden.«
Das würde ich brauchen.
Obwohl Tammy gesagt hatte, dass das Zentrum mir nicht erzählen würde, ob Lisa dort war, suchte ich die Nummer auf meinem iPhone heraus. Die Frau am Telefon war höflich, sagte jedoch, dass sie keine Informationen über ihre Mitglieder herausgeben dürften. Als Nächstes hörte ich meine Mailbox im Krankenhaus ab, gegen alle Vernunft hoffend, dass Lisa vielleicht eine Nachricht hinterlassen hatte, aber es war nur eine von Kevin drauf, der fragte, wie es mir ginge. Ich rief
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