Blick in Die Angst
ihr Gesicht und ihre Arme waren mit offenen, nässenden Geschwüren bedeckt. Rasch wandte ich den Blick ab. Im nächsten Zimmer blickte eine junge indianische Frau auf. Sie war mit selbstgemachten Tattoos geschmückt und sagte: »Wen suchst du, Schwester?«
»Meine Tochter, Lisa Lavoie.«
Ihre Augen wurden schmal, als würde sie nachdenken. »Da ist eine Lisa am Ende vom Flur. Die ist süß.« Sie grinste.
Den Rest des Weges lief ich, wobei all die Gerüche mich fast würgen ließen. Der Raum am Ende des Flures hatte eine Tür. Ich rang mit mir, ob ich anklopfen sollte, doch dann stieß ich sie einfach auf. Lisa saß zusammengekauert auf einer fleckigen alten Matratze ohne Laken. Die alten Tapeten hingen in Streifen von der Wand, und ein kalter Wind wehte durch das zerbrochene Fenster. Die Fensterbank war schwarz vom Moder und Schimmel. Im ganzen Raum verstreut lagen leere Pizzapackungen und Fastfood-Schachteln. Lisa trug die Kleider, in denen sie mein Haus verlassen hatte: ausgeblichene schwarze Jeans und ein graues Sweatshirt, dessen Kapuze sie über den Kopf gezogen hatte. Statt in eine Decke hatte sie sich in ihre Jacke gewickelt und saß gegen die Wand gelehnt da, die Augen geschlossen und den Rucksack auf dem Schoß. Sie war so blass, dass ich den Atem anhielt, bis sie etwas murmelte und sich bewegte.
»Lisa?« Langsam wurde sie wach und starrte mich an. Ihre Pupillen waren erweitert, sie packte ihren Rucksack und zog ihn enger an sich. Ihr Kiefer mahlte, und ihr Blick huschte unruhig durch den Raum. Sie war total zugedröhnt. Ich kämpfte den Drang nieder, sie am Nacken zu packen, hier rauszuschleifen und zu Hause im Gästezimmer einzusperren. Hinter der Wut regten sich meine Angst um sie, mein Kummer und meine Verzweiflung. Wie konnte sie sich selbst das antun?
Sie sagte: »Was tust du hier?«
»Ich wollte mit dir über den Prospekt reden, den du in meinem Haus liegengelassen hast – vom River of Life Center. Woher hast du den?«
Sie wich meinem Blick aus, kratzte sich mit ruckartigen Bewegungen an den Armen, den Beinen, am ganzen Körper.
»Die Leute da sind nicht das, was sie zu sein scheinen. Du weißt nicht, wie sie …«
»Du bist echt unglaublich«, lallte sie. »Du hast doch immer gewollt, dass ich mich behandeln lasse – jetzt versuche ich, Hilfe zu bekommen, und du bist trotzdem nicht zufrieden.«
Sie hatte recht. Ich bedrängte sie seit Jahren, sich Hilfe wegen ihrer Drogenabhängigkeit zu holen, aber ich hätte nie erwartet, dass sie diese Hilfe in dem Zentrum suchen würde. Ich musste jetzt vorsichtig sein, musste meine Argumente geschickt vorbringen. »Lisa, ich kannte den Leiter als Kind. Am Anfang sagen sie, dass sie dir helfen wollen, aber am Ende schaden sie den Menschen. Vor allem den Mädchen. Ihr Leiter …«
»Du willst, dass ich von den Drogen wegkomme, oder? Die haben ein paar anderen Leuten geholfen, die ich von der Straße kenne. Warum kannst du mich nicht einmal etwas auf meine Weise machen lassen?« Ihre Stimme brach. Wütend und mit gerötetem Gesicht starrte sie hinunter auf ihre Knie. Sie hatte es schon immer gehasst, vor jemand anders zu weinen. Als sie klein war, war ich die Einzige, die sie halten durfte, wenn sie schluchzte. Alle anderen hatte sie weggestoßen.
Ich kniete mich vor sie auf den Boden. »Lisa, ich möchte dich in deinen Entscheidungen unterstützen. Aber ich möchte auch, dass du zuerst etwas über diese Leute erfährst.«
»Jetzt willst du mich plötzlich beschützen. Wo warst du davor?«
»Ich war immer da …«
Sie begann, schrill zu lachen. »Du warst doch so damit beschäftigt, zu lernen, wie man all den anderen Leuten hilft, dass du gar nicht gemerkt hast … mich hast du nicht beschützt.«
Das Blut rauschte in meinen Ohren, alles wirkte plötzlich wie in Zeitlupe, ihre Worte kamen wie aus weiter Ferne. Mein Unterbewusstsein wappnete sich bereits, als es spürte, dass ich gleich etwas Schmerzhaftes zu hören bekäme.
»Wovor habe ich dich nicht beschützt?«
»Jemand hat mich gefickt, Mom . Mein Gott, bist du wirklich so blind?«
Ich ließ mich zurücksinken. Mein Verstand versuchte zu erfassen, was sie gerade gesagt hatte. Meinte sie, jemand hätte sie sexuell missbraucht? Ich sah ihr in die Augen, ihr kampflustiger Blick warnte mich, es zu leugnen, und ich spürte die Scham und den Schmerz hinter ihren zornigen Worten. Es war wahr. Ich versuchte zu sprechen, irgendetwas zu sagen, aber mein Herz schlug viel zu heftig und zu schnell,
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