Blick in Die Angst
ihn zurück, und als er meine Stimme hörte, sagte er: »Wie geht es dir? Und deiner Tochter?«
»Ich weiß nicht. Sie ist gerade …« Es war mir peinlich, als meine Stimme brach.
»Was ist passiert?«
Ich erzählte ihm von unserem Streit und von dem Prospekt, den ich gefunden hatte.
»Das tut mir wirklich leid. Kann ich dir irgendwie helfen? Ich habe heute Nachmittag etwas Zeit. Wollen wir zusammen spazieren gehen, etwas frische Luft schnappen und über alles reden?«
»Danke, aber ich werde einfach durch die Gegend fahren und sehen, ob Lisa bei irgendeiner Unterkunft aufgetaucht ist.«
»Wenn du später das Bedürfnis hast zu reden, melde dich einfach. Bis dahin viel Glück.«
»Das werde ich brauchen.« Ich holte tief Luft und ließ den Atem langsam aus meinen Lungen entweichen. »Ich bete nur, dass sie nicht schon in der Kommune ist. Sie ist im Moment so verletzlich.« Ich erzählte ihm, dass Tammy gesagt hatte, sie würde zur Polizei gehen. »Aber ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis sich auf dem offiziellen Weg etwas tut, oder ob sie ihn überhaupt verhaften werden.«
»Falls Lisa im Zentrum ist, hast du immer noch etwas Zeit, ehe sie richtig integriert ist. Es wäre ja denkbar, dass sie nur an einem der Einführungsretreats teilnimmt, der ihr vielleicht noch nicht einmal gefällt. Und wenn Aaron verhaftet wird, wird sie vermutlich gehen.«
Ich dachte an Heather, die zu ihrem ersten Retreat gegangen und schließlich monatelang geblieben war und ihr Leben, ihre Freunde und Familie hinter sich gelassen hatte.
»Ich hoffe, du hast recht.«
Ich drehte eine Runde, ohne Lisa zu finden. Später am Abend versuchte ich es erneut, in der Hoffnung, ein paar Leute von der Straße kämen wieder ins Wohnheim. Obwohl es nicht gerade ungefährlich war, am Abend in dieser Gegend unterwegs zu sein, war ich bereit, das Risiko einzugehen. Es war kalt, so dass ich mich dick einmummelte und mich beim Wohnheim an die Ecke stellte, Lisas Foto in der Hand. Als sich eine Gruppe Jugendlicher zusammenscharte, bemerkte mich ein junger Mann mit Gesichtspiercings und Skateboard. Er sah friedlich aus, also lächelte ich probeweise und ging auf ihn zu. Er verließ die Gruppe und kam mir entgegen.
»Suchen Sie jemanden?«
Ich zeigte ihm das Foto. »Ja, meine Tochter. Sie heißt …«
»Lisa.« Er nickte. »Wir haben ein paarmal zusammen gechillt. Sie ist cool.«
»Wissen Sie, wo sie sein könnte?« Ich hielt den Atem an. Bitte, Gott.
Er schielte zurück zu seinen Freunden, die inzwischen die Straße hinuntergingen. »Zuletzt habe ich sie vor ein paar Nächten gesehen – ein Stück weiter die Straße runter. Sie sagte, sie würde im Monkey House pennen.«
»Was ist das?«
»Es liegt unten an der Caledonia Ave. Das große weiße Haus. Aber passen Sie auf, wenn Sie da reingehen. Die dürfen Sie nicht für eine Sozialarbeiterin oder einen Cop halten.«
»Danke. Warum heißt es Monkey House? Das Affenhaus?«
»Weil jeder da irgendwie durchgeknallt ist, meistens wegen Drogen. Viel Glück, Lady.« Er machte Anstalten zu gehen.
Wenn Lisa dort war, bedeutete das, dass sie wieder Drogen nahm? Ich rief laut: »Vor ein paar Tagen hatte sie eine Überdosis. Wussten Sie das?«
Er drehte sich um. »Das Letzte, was ich gehört hab, war, dass sie clean ist.« Er zuckte die Achseln. Einfach nur ein weiterer Tag auf der Straße. Dann ließ er sein Skateboard fallen und fuhr davon, seinen Freunden hinterher. Also glaubte er ebenfalls, dass sie clean war. Hatte Lisa die Wahrheit gesagt?
Ich fuhr zu dem Haus in der Caledonia Ave und blieb draußen sitzen. Hätte ich Kevin doch lieber bitten sollen, mich zu begleiten? Das Problem war, wenn Lisa ihn sähe, wäre sie in null Komma nichts verschwunden. Ich holte tief Luft, lief zum Haus und stieß die Tür auf. Sofort umwehte mich der Gestank ungewaschener Körper, verbrannter Chemikalien und von Zigarettenrauch. Ich ging durch einen dunklen Flur und versuchte, in dem geschlossenen Raum nicht in Panik zu geraten. An einer Stelle zögerte ich, jemand hatte Abfall vor einer Tür angehäuft, so dass der Flur nur noch ein enger Durchgang war. Denk nicht darüber nach, konzentriere dich einfach darauf, Lisa zu finden. Ich zählte meine Atemzüge, bis mein Herzschlag sich beruhigte, und ging weiter. Mir fiel auf, dass in den meisten Räumen nur eine nackte Matratze lag, auf der Leute schliefen oder mit glasigem Blick hockten. Müll bedeckte die Holzfußböden. Eine Frau starrte mich finster an,
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