Blick in Die Angst
Menschen ihre Vergangenheit hinter sich lassen und neu anfangen können.«
Frustration verlieh meiner Stimme einen erbosten Unterton. »Man muss doch irgendwie die Menschen da drin erreichen können. Was, wenn es einen Notfall gibt?«
»Sie können eine Nachricht hinterlassen.«
»Mir wurde gesagt, dass die Mitglieder davon abgehalten werden, mit der Außenwelt zu kommunizieren, mit Familien oder Freunden.«
»Das stimmt. Es ist besser, wenn man sich ganz auf die Workshops konzentriert. Aber wenn Sie eine Nachricht hinterlassen und sie nicht zurückruft, dann wissen Sie, dass sie dort glücklich ist.«
Wenn sie nicht zurückriefe, dann eher deswegen, weil sie nicht mit mir reden wollte. Aber wie konnte ich wissen, ob sie die Nachricht tatsächlich erhielt?
»Vielleicht gefällt es ihr ja gar nicht«, sagte Daniel. »Viele Leute sind noch nicht bereit für den Weg und gehen nach dem ersten Wochenende. Niemand wird gegen seinen Willen festgehalten.«
Er klang irritiert, als verstünde er nicht, warum ich mir solche Sorgen machte. In gewisser Weise hatte er recht. Theoretisch konnte Lisa jederzeit gehen, aber ich wusste, dass Fasten und Schlafentzug die Realitätswahrnehmung verändern konnten.
»Schon möglich, aber ich würde mich wesentlich besser fühlen, wenn ich zumindest wüsste, ob sie dort ist oder immer noch auf der Straße«, sagte ich. »Wenn ich selbst hingehen würde, was würde passieren?«
»Das Verwaltungsbüro ist abends geschlossen, aber die würden Ihnen ohnehin nichts erzählen. Wahrscheinlich müssten Sie sich einen Termin bei Aaron geben lassen.«
Ich dachte an die Anzeige, die ich gerade bei der Polizei erstattet hatte, und fragte mich, ob Aaron überhaupt mit mir sprechen würde. Ob das irgendwelche Auswirkungen auf die Ermittlungen hätte?
»Ich glaube nicht, dass er mich empfangen würde«, sagte ich. »Haben Sie sonst noch irgendeine Idee? Ich muss einfach wissen, dass es ihr gutgeht.«
Es folgte ein weiteres, lange widerhallendes Schweigen. Schließlich sagte er: »Geben Sie mir ein paar Tage, um diesen Job zu Ende zu machen, und wenn ich zurückgehe, sehe ich nach, ob sie dort ist.«
Trotz meiner Sehnsucht zu erfahren, wo Lisa steckte, sorgte ich mich doch, dass Daniel einen Fehler machte. »Haben Sie über alles nachgedacht, worüber wir gesprochen haben?«
»Ich gehe trotzdem zurück.« Er klang erst defensiv, dann widerwillig. »Wenn ich sie sehe, gebe ich Ihnen Bescheid.«
»Danke«, sagte ich, »ich weiß das wirklich zu schätzen, Daniel.«
Erneute Stille, dann legte er auf.
Nach dem Gespräch saß ich noch eine Weile in meinem Auto, beobachtete die Menschen, die im Monkey House ein und aus gingen, und wog meine Möglichkeiten ab. Wenn ich zum Zentrum fuhr und eine Szene machte, würde man mich dann Lisa sehen lassen? Unwahrscheinlich. Und selbst wenn ich mit ihr sprechen könnte, würde sie dann das Zentrum verlassen? Ich dachte daran, wie sie mich gestern aus der Absteige gejagt hatte. Dabei wollte ich doch nur wissen, ob es ihr gutging.
Ich startete den Wagen und fuhr zum Polizeirevier. Als ich dem Officer erklärte, was geschehen war, sagte er nur: »Ich kann Ihre Besorgnis verstehen, aber Ihre Tochter ist volljährig. Da können wir nichts machen.«
Ich nickte frustriert. Ich war es leid, immer nur gesagt zu bekommen, dass niemand irgendetwas tun könne – war es leid, das Gefühl zu haben, es gäbe nichts, das ich tun könnte. Als ich das Revier verließ, klingelte mein Handy. Es war Kevin.
»Alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut.« Aber es ging mir nicht gut. Nicht einmal annähernd.
»Als ich nichts von dir hörte, habe ich mir Sorgen gemacht. Hast du Lisa gefunden?«
Ich berichtete ihm, was ich im Monkey House herausgefunden und was Daniel mir über das Zentrum erzählt hatte.
»Da muss ich ihm recht geben«, sagte er. »Wenn sie in dem Zentrum ist, ist es besser, wenn sie ihre eigenen Schlüsse zieht. Jede Einmischung von dir könnte sie veranlassen, noch länger zu bleiben. Kannst du nicht ein paar Tage abwarten und hören, was Daniel herausfindet?«
Ich atmete langsam aus, beobachtete den vorbeirauschenden Verkehr und die Dampfwolken meines Atems in der kalten Luft. Ich stieg in den Wagen, und Kevin erinnerte mich daran, dass man Aaron möglicherweise verhaften würde, sobald Tammy ihre Aussage machte. Und das würde hoffentlich Lisa dazu bringen, das Zentrum mit anderen Augen zu betrachten. Abzuwarten war das Beste, was ich im Moment tun
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