Blick in Die Angst
kommen. Ich fühlte mich orientierungslos, als sei ich aus einem Traum erwacht, der meine Gedanken schwerfällig machte. Kevin beobachtete mich irritiert, aber auch besorgt. Sein Atem ging stoßweise.
Ich stand auf. »Ich muss … ich muss etwas aus der Küche holen.«
Immer noch ganz aus der Fassung, begann ich in der Küche das Geschirr abzuräumen und heißes Wasser einlaufen zu lassen. Gleichzeitig dachte ich: Du kannst ihn nicht einfach auf dem Sofa sitzen lassen. Du musst irgendetwas sagen . Aber was sollte ich sagen? Ich habe Angst, mein toter Mann könnte uns sehen? Ich spürte jemanden hinter mir, drehte mich um und fuchtelte mit der Spülbürste herum wie mit einer Waffe.
Kevin sah mich sanft an, als er mein Handgelenk ergriff und mich festhielt. »Möchtest du, dass ich gehe?«
Die Verletzlichkeit in seinen Zügen erschütterte mich, die Schüchternheit, die leise Hoffnung. Ich schüttelte den Kopf, unfähig, Worte für den Gefühlsmix zu finden, der mich durchströmte. Ich riss meine Hand los und warf die Bürste in die Spüle hinter mir.
Er machte einen Schritt vor und nahm meine Hand. Meine glitschigen Finger verflochten sich mit seinen, der Zitronenduft des Spülmittels hing in der Luft. Er presste sich mit seinem Körper gegen mich, an der harten Kante der Arbeitsplatte bog ich mich leicht nach hinten. Sanft und behutsam legte er seinen Mund auf meinen. In meinem Kopf tauchte ein Zitat auf, Das Leben ist für die Lebenden . Paul hatte es immer zu mir gesagt, wenn ich zu lange den Verlust eines unserer Tiere betrauerte. Einen Moment lang trat ich aus mir heraus, ließ die Schuldgefühle und die Angst los, die Angst, Paul zu verraten.
Was willst du, Nadine?
Ich wollte, dass Kevin über Nacht blieb, wollte seinen Körper spüren, der mich im Dunkeln festhielt, wollte das Wunder und die Freude erleben, einen neuen Menschen zu erforschen.
Ich ergriff Kevins Hand und zog ihn mit in mein Schlafzimmer.
Als ich am nächsten Morgen einen großen Männerarm um meinen Körper fühlte, fuhr ich erschrocken aus dem Schlaf auf. Mein Gesicht wurde heiß, als ich an die vergangene Nacht dachte, jede Erinnerung erotischer als die vorige. Wie sollte ich jetzt damit umgehen? Mein letzter »Morgen danach« war schon eine ganze Weile her. Ich nahm meinen Hausmantel ins Visier, der an der Rückseite der Tür hing, und überlegte, ob ich hineinschlüpfen könnte, bevor Kevin wach wurde. Doch Kevin spürte, dass ich wach war, und zog mich eng an seine Brust. Er liebkoste meinen Hals mit zarten Küssen und jagte mir wohlige Schauder über den Rücken.
»Guten Morgen«, flüsterte er.
»Morgen.« Ich wollte mich in seine Umarmung zurückfallen lassen, wollte diesen Moment genießen, doch ein anderer Teil von mir, der Teil, der nicht länger vom Sake ruhiggestellt war, war sich nicht sicher, wie weit ich gehen wollte, wie weit es überhaupt gehen konnte.
Kevin sagte: »Ich kann deine Gedanken bis hierher hören.«
»Ach ja? Und was denke ich gerade?«
»Dass du diese Woche gern mal abends mit mir essen gehen würdest.«
Meine Ängste erwachten wieder zum Leben. Ich hatte das Gefühl, alles würde viel zu schnell gehen und ich stünde am Rande eines Abgrunds, der unter meinen Füßen abbröckelte, während ich versuchte, zurückzuweichen.
»Ich weiß nicht … ich habe im Moment ziemlich viel um die Ohren.«
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich habe den letzten Abend mit dir wirklich genossen, Nadine – und nein, nicht nur den Teil im Bett.« Er setzte sich hinter mir auf. Ich drehte mich um, so dass ich auf dem Rücken lag und zu ihm hochschaute. Er lächelte. »Aber wir können es so langsam angehen, wie du möchtest. In Ordnung?«
Ich nickte. »Danke.« Was bedeutete dieses Es für ihn? Einen One-Night-Stand? Eine lockere Affäre? Eine Freundschaft mit gewissem Bonus?
Er grinste. »Bekomme ich wenigstens noch eine Tasse Kaffee, ehe du mich rauswirfst?«
Ich lächelte zurück. »Ich denke, das kriege ich hin.«
Kurz darauf saßen wir zusammen am Tisch und tranken Kaffee. Durch die banalen Rituale entwickelte sich bereits eine ungezwungene Vertrautheit, wenn wir einander Zucker und Sahne reichten, unsere Hände sich kurz berührten und wir einander über den Rand unserer Becher hinweg kurze Blicke zuwarfen. Ich sprach erneut über meine Sorgen um Lisa, die mit dem Morgenlicht wie mit einem Donnergrollen zurückgekehrt waren. Kevin fand immer noch, dass ich ein paar Tage warten sollte, und ich
Weitere Kostenlose Bücher