Blick in Die Angst
Zimmerdecke und blinzelte heftig. »Irgendetwas ist mit mir in diesem Rettungswagen passiert. Ich weiß nicht, was oder warum.« Er sah mich an. »Aber ich habe keine Angst mehr vor dem Tod.«
Ich dachte an Paul, dachte an meine Mutter und meinen Vater, an meine eigenen Ängste vor dem Tod. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich in den Klärschacht geklettert war, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Dass ich im Stall gezwungen gewesen war, meine Ängste zu überwinden, hatte mich befreit.
Ich wurde von Gefühlen und Gedanken überwältigt, die ich mir genauer ansehen musste, sobald ich allein war. »Du wirst nicht sterben, solange ich aufpasse.«
Er lächelte, doch dann wurde er wieder ernst, und die Falten um seinen Mund wurden tiefer. »Ich hätte dich besser beschützen sollen, als wir noch Kinder waren.«
»Du hast mich beschützt – so gut du konntest. Du warst erst sechzehn. Es war nicht deine Aufgabe, auf mich aufzupassen. Unsere Eltern hätten uns beide beschützen sollen.«
Ärgerlich verzog er das Gesicht. »Du hast ihnen schon immer die Schuld gegeben für alles, was passiert ist, als wir Kinder waren. Dabei haben sie ihr Bestes getan.«
Die Kluft zwischen seinen und meinen Erinnerungen überraschte mich nicht. Als Therapeutin hatte ich es viele Male erlebt, dass zwei Geschwister ihre Kindheit vollkommen unterschiedlich einschätzten. Das war typisch für dysfunktionale Familien, in denen niemals über die Misshandlungen gesprochen und der Täter stets verteidigt wurde. Aber es machte mich traurig, dass das Schweigen über so viele Dinge uns immer noch trennte.
»Ich habe sie auch geliebt«, sagte ich, »aber sie hatten eine Menge Probleme.«
»Du weißt doch gar nicht, wie es war. Du warst ja nie da.«
Da war sie wieder: die Verbitterung. Ich war fortgegangen, und er war geblieben.
Ich versuchte, ruhig zu bleiben, und unterdrückte den Impuls, mich zu verteidigen, dass ich die Grundregel unserer Familie gebrochen hatte – ob unglücklich oder nicht, sprich nie über das, was wirklich los ist. Meine Suche nach persönlichem Glück, der Versuch, den Tränen und blauen Augen, dem Geschrei und Geweine zu entkommen, war der größte Verrat von allen. Ich entwickelte eigene Ideen, erlernte die Sprache der Gefühle und, am schlimmsten von allem, wurde ungeduldig und wütend auf sie, weil sie nicht mehr vom Leben verlangten, weil sie nicht versuchten, mich in meine Welt zu begleiten. Und das hatten sie gespürt.
Ich wollte erklären, dass mein Weggang die einzige Möglichkeit für mich gewesen war, zu überleben, als unsere Familie in einem Sumpf aus Schmerz und Verleugnung versank, und dass ich nicht mehr so tun konnte, als ob, dass ich nicht länger schweigen konnte. Doch Robbie hatte gerade eine Herz-OP hinter sich und durfte sich nicht aufregen, so dass ich alles für mich behielt, wieder einmal, und nur sagte: »Du hättest auch gehen können.«
»Wie denn, Nadine? Wie zum Teufel hätte ich das tun können? Damit Dad Mom endgültig totprügelt? Damit er eines Nachts die Treppe herunterstürzt?«
Robbie war rot angelaufen. Die ganze alte Wut kam heraus. Mein Versuch, nicht an unseren Probleme zu rühren, war fehlgeschlagen. Und es war nicht das erste Mal. In diesem innigen Moment, in dem der Schatten des Todes zwischen uns schwebte, begriff ich, dass ich mich in unseren Gesprächen schon immer so gefühlt hatte, dass ich mich schon immer so verhalten hatte. Ich glaubte, ich würde mich zurückhalten, doch mein Drang, Menschen anzustoßen, zu heilen und zu reparieren, damit sie so wurden, wie ich sie brauchte, war immer stärker gewesen. Er lag in meiner Stimme, in der subtilen Art, wie meine Zunge die Worte aus dem Mund stieß. Und mein Bruder, der einzige Mensch, mit dem ich das Blut und eine gemeinsame Geschichte teilte, wusste, was ich wirklich meinte, selbst wenn ich gar nichts sagte.
Also sagte ich es jetzt laut, zum ersten Mal in unser beider Leben.
»Du warst nicht für sie verantwortlich. Sie waren erwachsen. Sie haben ihre eigenen Entscheidungen getroffen – genau wie du. Ich lasse mir nicht von dir die Schuld dafür geben.«
Das Piepen des Monitors zeigte an, dass Robbie mit sich rang. Dann veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Er ließ den Kopf in das Kissen sinken, er atmete immer noch schwer, aber sein Herzschlag normalisierte sich wieder.
Nach einer Weile sagte er, immer noch zur Decke emporblickend: »Du hast recht. Ich hätte gehen können. Aber ich wollte
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