Blick in Die Angst
berührte mit einer ängstliche Geste ihren Bauch. Mit zitternder Stimme las ich mein Geständnis vor. »Ich liebe meine Mom, aber manchmal … manchmal hasse ich sie. Ich wünschte, sie wäre mehr wie die Mütter meiner Freundinnen. Ich wünschte, sie wäre normal.« Ich suchte die Menge ab, fand meine Mutter. Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. Ich hielt ihrem Blick stand, auch mir liefen die Tränen übers Gesicht. Ich versuchte, ihr meine Gedanken zu übermitteln: Es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. Ich war nur sauer .
Sie wandte sich ab.
Nach fünf Monaten in der Kommune hatte ich mich vollkommen in mich selbst zurückgezogen und sprach kaum noch. Ich verbrachte den Großteil der Zeit mit den Tieren und malte mir aus, fortzulaufen. Ich hätte es vielleicht sogar versucht, wenn Willow nicht gewesen wäre, ein hübsches, rehäugiges Mädchen im Teenageralter, dessen karamellfarbenes Haar ihm bis zur Hüfte reichte. Im Juni hatte sie sich der Kommune angeschlossen, und sie erzählte mir von den Orten, zu denen sie getrampt war, von den Menschen, die sie unterwegs kennengelernt hatte. Sie sagte auch, dass ich als erwachsene Frau wunderschön aussehen würde. Sie schenkte mir eine Perlenkette, legte sie mir um den Hals und neckte mich mit ihrem heiseren Lachen, weil ich so schüchtern war. Sie trug ausgeblichene Schlaghosen und eine mit Fransen besetzte Männerweste aus zimtfarbenem Leder, die an ihrer schmalen Gestalt herunterhing. Ihre Füße waren nackt, und an einem Zeh glitzerte ein Ring. Ich wusste nicht, ob ich schön sein würde oder nicht. Ich wusste nur, dass ich so sein wollte wie sie. Ich wollte frei sein.
6. Kapitel
Ehe ich mit der Visite begann, fragte ich die Krankenschwestern, was es Neues gäbe. Michelle erzählte, dass Heather sich gestern, nachdem Daniel gegangen war, ins Bett gelegt und die Nacht durchgeschlafen hatte. Heute Morgen mussten sie ihr gut zureden, bis sie duschte und frühstückte. Anschließend war sie in das Krisenzimmer zurückgegangen, und seitdem schlief sie. Sie reagierte verzögert, wenn man sie ansprach, und war immer noch lethargisch. Es überraschte mich nicht, dass sie sich nach unserem Erstgespräch so abkapselte, denn die Patienten litten oft unter extremen Stimmungsschwankungen. Als ich das Krisenzimmer aufschloss, fand ich sie in derselben Position vor wie am ersten Tag – zu einem Ball zusammengerollt.
»Heather, können Sie ein Weilchen mit rauskommen? Ich würde gerne mit Ihnen reden.« Wir können mit den Patienten auch im Krisenzimmer sprechen, wie ich es an ihrem ersten Morgen im Krankenhaus getan hatte, aber wir ermutigen sie stets herauszukommen, damit sie aktiv bleiben.
Sie schüttelte den Kopf und murmelte etwas.
Ich achtete darauf, weiterhin munter zu klingen. »Ich weiß, dass Sie müde sind, ich werde Sie auch nicht lange aufhalten. Dann können Sie sich wieder hinlegen und ein kleines Nickerchen halten.« Bei neuen Patienten konzentrierten wir uns zunächst auf ihre Grundbedürfnisse, sorgten dafür, dass sie viel tranken, aßen und duschten, denn normalerweise wollten sie einfach nur schlafen. Sobald sie etwas wacher waren, fingen wir an, mit ihnen einen Behandlungsplan zu erarbeiten. Dieses Gespräch sollte nur einer ersten Einschätzung dienen, um zu sehen, wie sie sich eingewöhnte.
Schließlich drehte Heather sich um und kam langsam auf die Beine. Sie machte sich nicht die Mühe, den Morgenmantel anzuziehen, den Daniel ihr gebracht hatte, sondern schlurfte einfach hinter mir her, den Kopf gesenkt, so dass die Haare ihr Gesicht verbargen.
Im Behandlungszimmer begann ich mit den grundsätzlichen Fragen.
»Können Sie gut schlafen?«
»Ich bin müde.« So sah sie auch aus. Mit hängendem Kopf saß sie zusammengesackt auf dem Stuhl.
»Sie können bald wieder ins Bett gehen. Vielleicht haben Sie ja Lust, am Nachmittag herauszukommen und ein wenig fernzusehen? Was halten Sie davon?«
Sie antwortete nicht.
Ich stellte ihr ein paar weitere allgemeine Fragen. Wie kommen Sie zurecht, haben Sie immer noch so düstere Gedanken, brauchen Sie irgendetwas? Und erhielt immer das absolute Minimum einer Antwort: Gut, ja, Daniel soll kommen .
Ich sagte: »Er kommt bestimmt heute Nachmittag vorbei.«
»Kann ich jetzt wieder ins Bett gehen?«
Ich beendete unsere Sitzung an dieser Stelle und führte sie zurück in den Krisenraum. In ihrem gegenwärtigen Zustand war sie immer noch zu niedergedrückt für jede echte emotionale Arbeit,
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