Blick in Die Angst
Freund verabredet. Danach verlor ich ihre Spur. Sie wechselte ihre Freunde so rasch wie ihre Wohnungen.
Nach meinem Umzug nach Victoria musste ich endgültig einsehen, dass alle Spuren, die mich zu Lisa hätten führen können, erkaltet waren. Ich besuchte die Victoria New Hope Society, die drei Wohnheime für Obdachlose betrieb, und zeigte ein Foto von Lisa herum, aber niemand gab mir Auskunft. Ich fragte mich, ob ich meine eigene Tochter erkennen würde, wenn ich sie sähe. Ich wusste nicht einmal, welche Haarfarbe sie zurzeit hatte. Als sie es das erste Mal bleichte, hatte ich mich bemüht, es als Ausdruck ihrer Selbstfindung zu werten und sie in ihrer Eigenständigkeit zu unterstützen. Doch ich vermisste das kleine Mädchen, das genauso werden wollte wie seine Mutter, das mich bat, seine Haare genauso zu flechten wie meine, damit wir gleich aussahen. Dabei waren wir niemals gleich.
Sie war still, während ich mitteilsam war und stets versuchte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich wollte immer wissen, warum die Menschen auf die Weise empfanden, wie sie es taten. War das vielleicht einer der vielen falschen Wege, die ich eingeschlagen hatte? Da ich in einer Familie aufgewachsen war, in der über nichts gesprochen wurde, wollte ich in der Beziehung zu Lisa absolute Offenheit. Ich ermutigte sie, über ihre Gefühle zu sprechen und mir zu erzählen, was sie dachte, doch sie behielt ihre Meinung stets für sich. Als sie kleiner war, frustrierte mich ihr Schweigen – und ängstigte mich. Erst nach ihrem Auszug gestand ich mir ein, dass ich mit ihr über ihre Gefühle reden wollte, damit ich sie leiten und kontrollieren konnte, damit ich sie beschützen konnte.
Hin und wieder hielt ich bei meinen abendlichen Runden an und zeigte ihr Foto ein paar Straßenkids. Ob Lisa wohl erfuhr, dass ich nach ihr suchte? Ich hatte Angst, meine Versuche, sie zu finden, könnten sie womöglich gleich wieder vertreiben.
Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Es war immer das Gleiche: nur eine weitere Gruppe Jugendlicher, mit ihren Kapuzenpullis, Baggys und Skateboards, von denen keiner meine Tochter je zu Gesicht bekommen hatte.
Als ich nach einer neuerlichen fruchtlosen Suche nach Lisa auf meiner Auffahrt parkte und um die Hausecke zur Hintertür ging, bemerkte ich die schwarze Katze, die einem Vogel auflauerte. Sie entdeckte mich und sprang über die klappernden Mülleimerdeckel auf den Zaun. Die Katze starrte auf mich hinab, ihr magerer Schwanz zuckte hin und her – nicht ängstlich, sondern verärgert. Ich machte schnalzende Geräusche, aber sie drehte mir den Rücken zu und fing an, sich die Pfoten zu lecken. Ich füllte etwas Thunfisch auf einen Teller und ging wieder hinaus. Sie beäugte mich von ihrem Hochsitz auf dem Zaum, kam jedoch nicht näher, egal, wie viele Lockgeräusche ich machte. Ich stellte den Teller auf die Brüstung meiner Veranda. Am nächsten Morgen stellte ich auf dem Weg zur Arbeit erfreut fest, dass der Teller saubergeleckt war. Abends stellte ich, als ich nach Hause kam, eine Kiste mit einer Decke nach draußen, damit sie einen geschützten Ort zum Schlafen hatte. Meine Gedanken wanderten wieder zu Lisa. Wo steckte sie? Hatte sie es nachts warm? Ob sie wohl jemals an mich dachte?
Das Pflegepersonal erzählte mir, dass Heather nicht mehr so viel schlief. Tags zuvor hatte sie an einer weiteren Gruppensitzung teilgenommen und anschließend den Rest des Tages mit einigen Patienten vor dem Fernseher verbracht – alles gute Zeichen. Während der Visite sprachen wir länger. Ihr Selbstwertgefühl war noch immer sehr schwach, und sie hatte weiterhin ein schlechtes Gewissen, weil sie die Kommune verlassen hatte. Aber ich konnte sie dazu bringen, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und mit mir zusammen weiter an ihrem Behandlungsplan zu arbeiten.
»Was könnten Sie heute machen, das Ihnen guttun würde?«
»Ich kann an einer Gruppe teilnehmen oder auf der Station herumgehen«, erwiderte sie.
»Das klingt sehr gut.« Wir sprachen ein paar Minuten über weitere Dinge, die sie ausprobieren könnte, dann fragte ich sie, ob sie immer noch daran dachte, sich selbst etwas anzutun.
»Manchmal, aber nicht mehr so oft.« Sie blickte sich um. »Hier drin ist es anders. Ich bin nicht so allein. Und die Schwestern sind alle so nett, Michelle zum Beispiel. Ich fühle mich …« Sie zuckte die Achseln. »Irgendwie sicherer. Als sei ich nicht verrückt oder schlecht oder so.«
»Das sind Sie auch
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