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Blick in Die Angst

Blick in Die Angst

Titel: Blick in Die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chevy Stevens
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ich hoffte, dass sie mich trotzdem an ihrer Geschichte teilhaben lassen würde.
    Ich hatte immer noch mit den Erinnerungen an meinen eigenen Missbrauch zu kämpfen. Plötzlich betrachtete ich mein Leben mit ganz anderen Augen und hinterfragte alles. Da war zum Beispiel mein Unbehagen, sobald ich mit einem fremden Mann allein war, oder wie lange ich brauchte, um jemandem zu vertrauen. Paul und ich hatten ein Jahr zusammengearbeitet, ehe wir anfingen, zusammen auszugehen. Aus unserer Freundschaft war Liebe geworden, als wir beide eines Nachts in die Klinik schlichen, um nach einem frisch operierten Hund zu sehen. Wir blieben stundenlang in der Klinik und unterhielten uns leise, wobei unsere Hände sich immer wieder zufällig berührten, wenn wir das weiche Fell des schlafenden Tieres streichelten. Selbst danach dauerte es noch eine Weile, ehe ich bereit war, mit Paul zu schlafen.
    War ich einfach eine Frau, die sich gern Zeit ließ? Oder war es ein Symptom des Missbrauchs? Alles, was ich für selbstverständlich gehalten hatte, meine Reaktionen, meine Abneigungen, meine Eigenarten, die ich einfach als meine persönlichen Schrullen akzeptiert hatte, war jetzt mit einem riesigen Fragezeichen versehen.

    Zum Lunch holte ich mir in der Kantine etwas Suppe und hatte sie gerade auf einen Tisch abgestellt, als ich Kevin mit seinem Tablett in der Schlange entdeckte. Er sah sich in dem belebten Raum nach einem Platz um. Ich fing seinen Blick auf und deutete auf den Stuhl vor mir.
    Er ließ sich mit einem Lächeln nieder. »Hier hast du dich also versteckt.«
    »Vor dem großen, bösen Wolf?«
    »Ich glaube, der macht gerade Therapie bei mir.« Wir lachten beide, und dann sagte er: »Und, wie geht’s dir? Ich sehe dich kaum noch.« Erst jetzt fiel mir auf, dass wir uns plötzlich duzten, aber das war völlig in Ordnung.
    »Ich hatte viel zu tun, und ich überprüfe gerade ein paar Sachen beim River of Life Center.«
    »Ach ja? Zum Beispiel?«
    Eigentlich wollte ich weder ihm noch sonst jemandem aus dem Krankenhaus erzählen, was in meinem Privatleben los war, aber er wirkte aufrichtig interessiert, und er hatte mir zuvor schon sehr geholfen. Also erzählte ich ihm, was ich seit meiner ersten Begegnung mit Heather erlebt hatte, wobei ich alles, was meinem Bruder oder Lisa betraf, ausließ. Ich berichtete ihm von den Flashbacks an den Missbrauch durch Aaron und dass ich befürchtete, es könnte weitere Opfer geben. Ich blieb distanziert und versuchte, die Emotionen von den Worten zu trennen.
    Während ich sprach, hörte er meistens einfach zu, nur hin und wieder umschrieb er etwas, das ich gesagt hatte, und fragte, ob er mich richtig verstanden hatte. Am Ende lehnte er sich zurück, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und musterte mich mit warmherzigem und mitfühlendem Blick.
    »Meinst du wirklich, du solltest selbst Nachforschungen anstellen?«, fragte er ernst. »Wäre es nicht klüger, das von jetzt an der Polizei zu überlassen?«
    Ich dachte kurz darüber nach. »Das wäre sicher einfacher, aber ich habe Angst, dass der Fall dann zu den Akten gelegt wird. Und dann kann Aaron weiterhin junge Mädchen missbrauchen. Die Polizei hat keine Zeit für solche Puzzlearbeit. Wenn ich genügend Hinweise finde, dass irgendetwas nicht stimmt, kann ich sie besser unter Druck setzen.«
    »Aber meinst du denn nicht, es könnte gefährlich werden?«
    »Im Moment nicht …« Ich erzählte ihm, was ich schon zu Mary gesagt hatte, dass Aaron keine negative Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen würde. Doch noch während ich redete, dachte ich wieder an diesen grünen Truck, an das Gefühl, beobachtet zu werden, und fragte mich, ob Aaron mich nicht vielleicht tatsächlich überwachen ließ. Ich behielt diesen Gedanken für mich.
    Kevin nickte langsam. »Ja, das klingt einleuchtend.« Er schwieg nachdenklich, während er stirnrunzelnd auf einem Bissen von seinem Sandwich herumkaute. »Die Leute, die ich im Zentrum kennengelernt habe, kamen mir ganz anständig vor – ich bin sicher, dass sie keine Ahnung haben, dass Aaron Mädchen sexuell missbraucht oder dass sein Bruder in der Vergangenheit zu Gewalttätigkeit neigte.«
    »Das denke ich auch. Es gibt das Zentrum – und es gibt Aaron.«
    Er nickte erneut. »Trotzdem wäre es ratsam, aufzupassen, mit wem du darüber redest und was du erzählst.«
    Er hatte recht. Ich musste vorsichtiger sein, vor allem, wenn Aaron mich überwachen ließ. Aber ich konnte jetzt nicht aufhören, nicht jetzt, wo

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