Blind ist der, der nicht lieben will
breitquatschen lassen? Statt gemeinsam, waren sie an diesem Abend jeder für sich losgezogen, um nach Connor zu suchen, weil Tristan es für Erfolg versprechender gehalten hatte. Was es ja auch gewesen war, aber zu welchem Preis?
Nick schlug erneut gegen den Baumstamm und fluchte, als er sich dabei die Fingerknöchel aufscheuerte und beim umdrehen dann auch noch auf einen trockenen Ast trat, der knackend unter seinem Fuß zerbrach. Wieso hatte er auch kein Paar Ersatzschuhe eingepackt? Noch wütender als vorher lief er zurück zum Fluss, wo Tristan vom Felsen ins Gras gewechselt hatte und sich gerade die Schuhe wieder anzog. Nick baute sich hinter ihm auf.
„Du mieses Arschloch.“ Tristan zuckte heftig zusammen, schwieg aber. „Rede, Tristan! Und wehe dir, wenn du auch nur ein Detail auslässt, dann ertränke ich dich im Fluss, das schwöre ich.“
„Deswegen habe ich dir einige Sachen von damals nicht erzählt“, murmelte Tristan und seufzte im Anschluss daran, was Nick nur noch mehr ärgerte. „Weil ich wusste, dass du ausflippst.“
„Was erwartest du? Dass ich 'Hurra' schreie, wenn ich erfahre, dass mein bester Freund sich umbringen wollte, aus Solidarität für seinen Bruder heraus?“
„Solidarität?“ Tristan lachte kurz und hart, bevor er fragte, „Bist du wirklich so dämlich?“
Nick platzte der Kragen. Bevor er sich beherrschen konnte, hatte er Tristan auf die Füße gezerrt und stieß ihn mit dem Rücken gegen den nächsten Baum. „Beleidige mich noch ein Mal auf diese Art und Weise und ich vergesse mich. Ich weiß sehr wohl, dass du ohne den Kleinen nicht lebensfähig wärst, ich bin weder dämlich noch blind. Darum geht’s auch gar nicht. Ich will es wissen, Tristan. Was hast du mir noch alles verschwiegen über die Zeit damals?“ Nick kam ein Gedanke. „Oder sollte ich lieber fragen, in letzter Zeit?“ Tristan wurde blass, das sah er sogar trotz des schummrigen Morgenhimmels. „Rede! Und zwar sofort!“, verlangte er daraufhin erneut. Tristan presste, statt ihm zu antworten, trotzig die Lippen zusammen, doch damit würde Nick ihn nicht länger durchkommen lassen. „Vergiss es. Das zieht nicht. Du hast dich gerade selbst verraten. Im Notfall werfe ich Con und Dan aus ihrem Zelt. Du sagst mir auf der Stelle, was los ist.“
Tristans Blick huschte kurz in Richtung Campingplatz, dann biss er sich auf die Unterlippe, bevor er zu Boden sah und kaum hörbar sagte, „Ich glaube, ich bin Alkoholiker.“
Nick blieb der Mund offen stehen. Wie bitte? Tristan war was? Er kam nicht zu einem Kommentar, denn ein tiefes Brummen lenkte ihn ab. Tristan hob den Kopf. Im nächsten Moment weiteten sich seine Augen entsetzt, was Nick über die Schulter sehen ließ, direkt auf einen ausgewachsenen und recht großen Schwarzbären, der am anderen Ufer stand und sie beide musterte. Nick verkniff sich ein Stöhnen. Das hatte ihm gerade noch zu seinem momentanen Glück gefehlt. Er ließ von Tristan ab und drehte sich um, um sich direkt vor diesem zu postieren. Das würde Tristan bei einem Angriff nicht schützen, aber es war besser als nichts, fand Nick.
„Hoffentlich hat der Bursche heute schon gefrühstückt“, murmelte Tristan und griff seine Hand. „Lass uns abhauen.“
Nick verfluchte seine eigene Dummheit. Deswegen hatten die Vögel nicht mehr gesungen. „Genau“, konterte er trocken. „Und machen ihn damit erst recht auf uns aufmerksam.“
„Der weiß doch eh, dass wir hier stehen“, warf Tristan leise ein und zog an seiner Hand. „Lass uns verschwinden. Bis der durch den Fluss ist, sind wir längst weg.“
Nick schüttelte den Kopf. „Tristan, Bären verfolgen einen, wenn man flüchtet. Das müsstest du eigentlich wissen.“
„Das weiß ich auch, es hilft mir nur gerade nicht, okay?“
„Hast du Angst?“, fragte Nick, was offensichtlich war, aber wenn er Tristan damit von einer Panikreaktion abhalten konnte, war jede Frage, egal wie dumm sie eigentlich war, genau richtig.
„Du nicht?“, kam angesäuert zurück, was ihn innerlich grinsen ließ. Er war auf dem richtigen Weg.
„Ein wenig“, gestand Nick ein, was Tristan mit einem Schnauben kommentierte, bevor er 'Angeber' vor sich hinmurmelte. Im nächsten Moment brummte der Bär, worauf Tristan ihm fast die Hand brach. Nick stöhnte leise. „Gleich knacken alle Knochen in meiner Hand.“
Tristan lockerte seinen Griff. „Entschuldige... Moment mal, ist das Blut?“
Nick verdrehte die Augen. Das war ja so klar gewesen.
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