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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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mehr gebürstet oder gekämmt. So ungepflegt und ausgemergelt, wie sie war, hätte sie eigentlich schrecklich aussehen müssen, aber das tat sie nicht. Sie war so schön wie damals, als sie an dem Mustanggearbeitet und zusammen mit den Hunden den ganzen Sommer in der Scheune verbracht hatten.
    Bei ihrem Anblick wurde Jude von einer fast überwältigenden Gefühlswallung erfasst: Erschütterung, Verlust, Liebe, alles auf einmal. Er konnte es kaum ertragen. Vielleicht war die Überfülle an Gefühl auch zu viel für die Realität um ihn herum, denn die Welt an den Rändern seiner Wahrnehmung wurde unscharf, verzerrte sich. Der Flur verwandelte sich in einen Korridor aus Alice im Wunderland, zu schmal am einen Ende, mit kleinen Türen, durch die höchstens eine Katze passte, zu groß am anderen Ende, wo sich Craddocks Porträt zu Lebensgröße aufblies. Die Stimmen der Frauen auf der Treppe wurden immer tiefer, dehnten sich bis zur Unkenntlichkeit. Es war, als hörte man eine austrudelnde Schallplatte, nachdem jemand den Stecker aus der Wand gerissen hatte.
    Jude war drauf und dran gewesen, laut Anna zu rufen, wollte mehr als alles andere aufstehen und zu ihr gehen. Doch als die Welt um ihn herum sich verbog und seine Form verlor, drückte er sich mit rasendem Herzschlag wieder in den Stuhl. Im nächsten Augenblick sah er wieder klarer, der Flur begradigte sich, und er konnte Anna und Jessica wieder deutlich verstehen. Er begriff, dass das ihn umgebende Traumbild zerbrechlich war, dass er es nicht zu sehr belasten durfte. Still sein, sich nicht hastig bewegen, so wenig wie möglich tun oder fühlen, einfach nur zuschauen, das war jetzt wichtig.
    Anna hatte die Hände zu knochigen kleinen Fäusten geballt. Sie ging mit schnellen, aggressiven Schritten die Treppe hinauf, sodass ihre Schwester beim Versuch, ihr auf den Fersen zu bleiben, ins Stolpern geriet und sich am Geländer festhalten musste, damit sie nicht die Treppe hinunterfiel.
    »Warte … Anna … bleib stehen!«, sagte Jessica, machteein paar schnelle Schritte und packte ihre Schwester am Arm. »Du bist hysterisch …«
    »Nein bin ich nicht fass mich nicht an«, sagte Anna in einem einzigen Satz ohne Punkt und Komma und riss sich los.
    Anna erreichte den Treppenabsatz und drehte sich zu ihrer älteren Schwester um, die zwei Stufen unter ihr stand. Jessica trug einen hellen Seidenrock und eine Seidenbluse in der Farbe von schwarzem Kaffee. Ihre Wadenmuskeln waren angespannt, am Hals traten die Sehnen hervor, das Gesicht war verzerrt vor Angst. In diesem Augenblick sah sie alt aus – nicht wie eine Frau in den Dreißigern, sondern wie eine, die auf die Fünfzig zuging. Ihre Haut war grau, besonders an den Schläfen, und die Mundwinkel waren verkniffen und von einem Netz aus Krähenfüßen umgeben.
    »Du bist hysterisch. Du bildest dir was ein, das ist eins von deinen schrecklichen Hirngespinsten. Du weißt nicht, was wirklich ist und was nicht. So kannst du dich nirgendwo blicken lassen.«
    »Ist das hier ein Hirngespinst?«, sagte Anna und hielt das Kuvert hoch, das sie in der Hand hielt. »Die Bilder hier?« Sie nahm die Polaroids heraus, fächerte sie in einer Hand auf, damit Jessica sie sehen konnte, und schleuderte sie ihr dann ins Gesicht. »Herrgott! Sie ist deine Tochter. Sie ist elf.«
    Jessica Price zuckte zurück, als ihr die Fotos ins Gesicht flogen. Sie fielen auf die Stufen rund um ihre Füße. Jude bemerkte, dass Anna ein Bild in der Hand behalten hatte, das sie jetzt in den Umschlag zurückschob.
    »Ich weiß, was wirklich ist«, sagte Anna. »Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben.«
    »Craddock«, sagte Jessica mit schwacher, kleinlauter Stimme.
    »Ich hau ab«, sagte Anna. »Wenn wir uns das nächsteMal sehen, dann hab ich seine Anwälte dabei, und dann nehmen wir Reese mit.«
    »Du glaubst, dass er dir hilft?«, sagte Jessica mit zittriger Flüsterstimme, fr? Seme? Jude brauchte eine Sekunde, bis er kapierte, dass sie über ihn sprachen. Seine rechte Hand fing an zu jucken. Sie fühlte sich aufgedunsen, heiß und wie von Mücken zerstochen an.
    »Na sicher.«
    »Craddock«, sagte Jessica. Diesmal war ihre Stimme lauter, sie bebte.
    Eine Tür wurde aufgestoßen, am Ende des dunklen Flurs, rechts von Jude. Er erwartete, dass Craddock hervortrat, doch statt ihrer erschien Reese. Sie lugte um den Türpfosten herum, ein Kind mit Annas mattgoldenem Haar, von dem eine Strähne über das Auge fiel. Jude hatte Mitleid mit ihr, spürte einen

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