Blind
Sorgen, wie blass sie aussah. Die Kleine würde nach dieser Geschichte nie wieder okay sein. Dabei traf sie die allerwenigste Schuld an allem.
Auf einmal packte Marybeth ihn am Arm. Sie waren in der Garage. Nein, nicht mehr in der Garage, schon draußen, im gleißend weißen Sonnenlicht. Angus sprang an ihm hoch, und Jude wäre fast umgefallen.
»Hau ab!«, schrie Marybeth Angus an. Immer noch hörte sie sich an, als wäre sie weit weg.
Jude wollte nichts sehnlicher, als sich hinsetzen – sofort, hier in der Einfahrt, wo er sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen konnte.
»Nein«, sagte Marybeth, als er sich auf den Beton sacken lassen wollte. »Nein, nicht. Zum Wagen. Los, komm schon!« Sie zerrte ihn mit beiden Händen am Arm, um ihn auf den Beinen zu halten.
Er schwankte vorwärts, stolperte gegen sie und brachte irgendwie einen Arm über ihre Schulter. Dann torkelten sie gemeinsam die sanft abfallende Einfahrt hinunter – zwei völlig zugedröhnte Teenager, die sich auf dem Highschool-Ball an ein paar Tanzschritten zu »Stairway to Heaven« versuchten. Diesmal lachte er. Marybeth schaute ihn erschrocken an.
»Jude. Du musst mithelfen. Ich kann dich nicht tragen. Wenn du auf die Schnauze fällst, schaffen wir's nie bis zum Wagen.«
Die elend klingende Stimme rührte ihn an. Er riss sich zusammen, atmete, um sich zu beruhigen, tief durch und schaute auf seine Doc Martens. Er konzentrierte sich auf jeden einzelnen schlurfenden Schritt. Der Straßenteer unter den Sohlen war vertrackt. Er kam sich ein bisschen so vor, als wollte er im Suff über ein Trampolin gehen. Der Untergrund schwankte. Er schiensich unter ihm durchzubiegen, und der Himmel neigte sich gefährlich zur Seite.
»Du musst ins Krankenhaus«, keuchte sie.
»Nein.«
»Doch, unbedingt.«
»Ach was, die Blutung stoppe ich selbst.« Wer war das, der ihr da antwortete? Hörte sich ganz nach seiner eigenen, erstaunlich vernünftigen Stimme an.
Er hob den Kopf und sah den Mustang. Die Welt drehte sich. Ein Kaleidoskop aus grellgrünen Rasenflächen, grellbunten Blumengärten und Marybeths kalkweißem, von Panik gezeichnetem Gesicht. Sie stand so dicht neben ihm, dass seine Nase praktisch im dunklen Gewuschel ihrer Haare steckte. In Erwartung ihres beruhigenden süßen Duftes, atmete er tief ein und zuckte sofort zurück, als ihm der Gestank von Kordit und totem Hund in die Nase stieg.
Sie traten auf den Gehweg. Marybeth öffnete die Beifahrertür und stieß Jude ins Auto. Dann nahm sie Angus am Halsband und zerrte ihn um den Wagen herum zur Fahrerseite.
Während sie die Tür aufmachte, schoss Craddocks Pick-up mit durchdrehenden, qualmenden Reifen aus der Garage auf die betonierte Einfahrt, raste quer über den Rasen und krachte durch den zersplitternden Lattenzaun über den Gehweg auf die Straße. Am Steuer saß Craddock.
Marybeth ließ Angus los und hechtete vornüber auf die Motorhaube, während der Pick-up in die Fahrerseite des Mustangs knallte. Von der Wucht des Aufpralls wurde Jude gegen die Beifahrertür geschleudert, das Heck des Wagens in die Straße und der vordere Teil über den Randstein auf den Gehweg gedrückt. Marybeth wurde von der Haube auf den Boden katapultiert.
Als der Pick-up sich in den Mustang gebohrt hatte, war das eigenartige Geräusch von zerplatzendem Plastikund ein durchdringendes Jaulen zu hören gewesen. Glassplitter fielen klirrend auf die Straße.
Jude hob den Kopf und sah Jessica McDermott Price' kirschfarbenes Cabrio neben dem Mustang stehen. Von dem Pick-up keine Spur. Er war überhaupt nie da gewesen. Vor dem aufgeblasenen weißen Ei des Airbags saß Jessica und hielt sich mit beiden Händen den Kopf.
Jude spürte nicht den Drang, irgendetwas zu tun, spürte keine Panik, spürte nichts. Benommen und abgestumpft, lehnte er an der Beifahrertür. Seine Ohren waren zu. Er schluckte ein paarmal, bis es ploppte und sie wieder frei waren.
Er setzte sich schwerfällig auf und schaute nach Marybeth. Sie saß auf dem Gehweg. Keine Grund zur Sorge, sie war okay. Sie schaute so benebelt, wie er sich fühlte. Sie blinzelte in die Sonne. Auf ihrer Kinnspitze sah er einen breiten Kratzer, die Haare hingen ihr in die Augen. Er wandte den Kopf und schaute wieder zu dem Cabrio. Das Fenster an der Fahrerseite stand offen oder war herausgefallen. Eine Hand hing schlaff aus dem Fenster. Der Rest von Jessica war aus dem Blickfeld gekippt.
Irgendwo fing jemand an zu schreien. Es hörte sich nach einem kleinen Mädchen
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