Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
den Füßen. Einen Strumpf streifte er über die rechte Hand, den anderen band er sich ums Handgelenk, gerade so fest, dass er die Blutzufuhr verlangsamte, aber nicht abschnitt. Er schaute seine Strumpfpuppe an und überlegte, ob er ohne Zeigefinger Akkorde greifen konnte. Wenn nicht, konnte er immer noch Slide-Gitarre spielen. Oder er konnte zur linken Hand wechseln und wieder so spielen, wie er es als Teenager getan hatte. Bei dem Gedanken musste er lachen.
    »Hör auf zu lachen«, sagte Marybeth.
    Er riss sich zusammen und presste die Zähne aufeinander. Er musste zugeben, sein Gelächter klang hysterisch, sogar in den eigenen Ohren.
    »Bist du dir sicher, dass sie uns nicht die Bullen auf den Hals hetzt? Dein altes Tantchen, meine ich? Oder darauf besteht, einen Arzt für dich zu rufen?«
    »Ja, da bin ich mir sicher.«
    »Warum?«
    »Weil wir sie nicht lassen.«
    Danach sagte Marybeth eine Zeit lang nichts. Sie fuhr gut, wie auf Schienen, wechselte auf die Überholspur, zog vorbei, scherte wieder ein und hielt dabei immer Tempo siebzig. Mit ihrer linken Hand, der weißen, verschrumpelten, hielt sie vorsichtig das Lenkrad, die andere, die mit dem infizierten Daumen, hielt sie von allem fern.
    Schließlich sagte Marybeth: »Was meinst du, wie geht das alles aus?«
    Jude wusste keine Antwort darauf. Statt seiner antwortete Angus – mit einem leisen, elenden Winseln.
    40
    Jude bemühte sich, die Straße hinter ihnen im Auge zu behalten. Immer wieder drehte er sich um, ob ihnen ein Streifenwagen oder der Pick-up des toten Mannes folgte. Am frühen Nachmittag jedoch legte er den Kopf gegen das Seitenfenster und schloss für einen Moment die Augen. Die Reifen auf der Straße machten ein hypnotisch monotones Geräusch … domm-domm-domm. Die Klimaanlage, die früher nie geklappert hatte, gab jetzt laute Klappergeräusche von sich. Auch das hatte eine Art hypnotische Wirkung, die Regelmäßigkeit, mit der die Klimaanlage heftig vibrierte, dann plötzlich verstummte, vibrierte, verstummte.
    Monate hatte er in die Restaurierung des Mustangs gesteckt, und Jessica McDermott Price hatte ihn binnen einer Sekunde wieder in Schrott verwandelt. Sie hatte Jude Dinge angetan, von denen er geglaubt hatte, sie würden nur Figuren in Country-Songs widerfahren. Sie hatte seinen Wagen zerlegt, seine Hunde verstümmelt, ihn aus seinem Haus vertrieben und einen Outlaw aus ihm gemacht. Es war fast zum Lachen. Wer hätte gedacht, dass ein weggeschossener Finger und der Verlust eines Viertelliters Blut den Sinn für Humor fördern konnten?
    Nein. Es war nicht zum Lachen. Es war wichtig, nicht schon wieder zu lachen. Er wollte Marybeth keinen Schrecken einjagen, wollte nicht, dass sie glaubte, er sei übergeschnappt.
    »Sie sind ja übergeschnappt«, sagte Jessica Price. »Sie werden nirgendwohin fahren. Sie müssen erst malzur Ruhe kommen. Ich werde Ihnen was zur Entspannung holen, und dann reden wir.«
    Als Jude ihre Stimme hörte, öffnete er die Augen.
    Er saß auf einem Korbstuhl, der an einer Wand des dämmerigen Flurs im ersten Stock von Jessica Price' Haus stand. Er war nie da oben gewesen, wusste aber trotzdem sofort, wo er war. Er erkannte es an den beiden Fotografien, den großen gerahmten Porträts, die an den mit dunklem Hartholz vertäfelten Wänden hingen. Das eine war ein Schulfoto, ein Weichzeichnerbild der etwa achtjährigen Reese, die vor einem blauen Vorhang stand und mit ihrem Zahnspangengebiss in die Kamera grinste. Ihre abstehenden Ohren hatten etwas tölpelhaft Schnuckeliges.
    Das andere Porträt war älter, die Farben waren schon leicht verblasst. Es zeigte einen kerzengeraden, breitschultrigen Captain mit dem langen, schmalen Gesicht, den himmelblauen Augen und dem breiten, dünnlippigen Mund von Charlton Heston. Craddocks Blick auf dem Foto war sowohl entrückt als auch arrogant. Runter, Mann, zwanzig Liegestütze.
    Links von Jude, am Ende des Korridors, befand sich die breite Haupttreppe, die hinunter in die Eingangshalle führte. Auf halber Höhe stand Anna, direkt hinter ihr Jessica. Annas Gesicht war gerötet, und sie war zaundürr. Die Knochen ihrer Handgelenke und Ellbogen zeichneten sich unter der Haut ab, die Kleidung hing lose an ihr herab. Sie war kein Goth-Girl mehr. Kein Make-up, kein schwarzer Nagellack, keine Ohren- oder Nasenringe. Sie trug ein weites weißes T-Shirt, eine ausgebleichte rosa Turnhose und Tennisschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Ihr Haar sah aus, als hätte sie es seit Wochen nicht

Weitere Kostenlose Bücher