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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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stechenden Schmerz beim Anblick ihrer großen, leidenden Augen, beim Gedanken, was manche Kinder sich ansehen mussten. Was aber trotzdem, dachte er, nicht so schlimm war wie das, was man ihr angetan hatte.
    »Es kommt alles raus, Jessie, alles«, sagte Anna. »Ich bin froh darüber, endlich alles erzählen zu können. Ich hoffe, sie sperren ihn ein.«
    »Craddock!«, schrie Jessica.
    Und dann öffnete sich die Tür genau gegenüber von Reese' Zimmer, und eine große, hagere, eckige Gestalt trat in den Flur. Im Halbdunkel wirkte Craddock wie ein schwarzer Scherenschnitt, ohne Gesichtszüge, abgesehen von der Hornbrille, die er anscheinend nur gelegentlich trug. In den Gläsern fing und fokussierte sich das wenige Licht, sodass sie in der Düsterkeit in einem matten Blaurosa glänzten. Aus dem Zimmer hinter ihm war das Klappern der Klimaanlage zu hören, ein regelmäßiges, brummendes Geräusch, das ihm merkwürdig vertraut vorkam.
    »Was ist das für ein Lärm?«, fragte Craddock mit honigsüß schnarrender Stimme.
    »Anna geht weg«, sagte Jessica. »Sie sagt, sie geht zurück nach New York, zu Judas Coyne, und holt seine Anwälte …«
    Anna schaute durch den Flur zu ihrem Stiefvater. Sie sah Jude nicht. Natürlich nicht. Ihre Wangen waren dunkelrot vor Zorn, mit zwei farblosen Flecken oben auf ihren Backenknochen. Sie zitterte.
    »… und die Polizei und erzählt allen, dass du und Reese …«
    »Reese ist hier im Haus, Jessie«, sagte Craddock. »Beruhige dich. Ganz ruhig.«
    »… und sie hat… sie hat Fotos gefunden«, fügte Jessica matt hinzu und schaute dabei zum ersten Mal ihre Tochter an.
    »Ach ja?«, sagte Craddock mit völlig entspannter Stimme. »Anna, Kleine. Es tut mir leid, dass du so aufgewühlt bist. Aber das ist nun wirklich nicht die passende Tageszeit zum Weglaufen, so durcheinander, wie du bist. Es ist schon spät, mein Mädchen, fast dunkel. Komm, wir setzen uns jetzt zusammen, und du erzählst mir, was dich bedrückt. War doch gelacht, wenn ich dich nicht wieder beruhigen könnte. Was ist? Wetten, dass ich's schaffe?«
    Anna schien es plötzlich die Sprache verschlagen zu haben. Ihre Augen waren stumpf, hell, erschrocken. Sie blickte von Craddock zu Reese und wieder zu ihrer Schwester.
    »Halt ihn mir vom Leib«, sagte Anna. »Oder ich bring ihn um, ich schwor's.«
    »Sie darf nicht weg«, sagte Jessica zu Craddock. »Noch nicht.«
    Noch nicht? Jude fragte sich, was das bedeuten sollte. Meinte Jessica, dass es noch mehr zu besprechen gab? Er hatte den Eindruck, als wäre die Unterhaltung fast beendet.
    Craddock schaute Reese von der Seite an.
    »Geh in dein Zimmer, Reese.« Während er das sagte, streckte er den Arm aus, um ihr beruhigend den Kopf zu streicheln.
    »Rühr sie nicht an!«, schrie Anna.
    Craddocks Hand erstarrte mitten in der Bewegung, direkt über Reese' Kopf – und fiel dann wieder zurück neben seinen Körper.
    Etwas hatte sich verändert. Im Halbdunkel des Flurs konnte Jude Craddocks Züge nur schlecht erkennen, aber etwas an seiner Körpersprache hatte sich geringfügig geändert – wie er die Schultern hielt oder den Kopf neigte oder seine Füße auf dem Boden standen. Jude musste an einen Mann denken, der sich überlegte, wie er eine in einem Unkrautgestrüpp versteckte Schlange zu fassen bekam.
    Ohne den Blick von Anna abzuwenden, richtete Craddock das Wort wieder an Reese. »Geh schon, mein Schatz. Die Nacht bricht herein, Zeit für die Erwachsenen, was zu besprechen. Nichts für kleine Mädchen.«
    Reese schaute durch den Flur zu Anna und ihrer Mutter. Anna nickte kaum merklich mit dem Kopf.
    »Geh in dein Zimmer, Reese«, sagte Anna. »Erwachsenengespräche, das ist alles.«
    Das kleine Mädchen zog den Kopf zurück und machte die Tür zu. Sekunden später dröhnte gedämpfte Musik durch die Tür. Trommelgewitter, kreischende Gitarren, die sich anhörten, als spränge ein Zug aus den Gleisen, gefolgt von schrill jubilierenden Kindern in ungeschliffenem Chorgesang. Die Version der Kidz-Bop von Judes letztem Top-40-Hit »Put You in Yer Place«.
    Craddock zuckte zusammen und ballte die Fäuste.
    »Dieser Kerl«, flüsterte er.
    Als er auf Anna und Jessica zuging, geschah etwas Merkwürdiges. Der Treppenabsatz wurde von der verblassenden Sonne erleuchtet, die durch das Panoramafenster an der Vorderseite des Hauses hereinschien.Als Craddock nun auf seine Stieftöchter zuging, wanderte das Licht von unten über sein Gesicht und ließ Einzelheiten seiner Züge scharf

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