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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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hatte«, sagte Jessica. »Sie hatte Depressionen. Hat sie immer schon gehabt, aber durch Sie sind sie noch schlimmer geworden. Sie war so am Boden, dass sie keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt hat. Hat sich nicht helfen lassen und hat sich mit niemandem mehr getroffen. Sie sind dafür verantwortlich,dass sie sich gehasst hat. Ihretwegen wollte sie sterben.«
    »Woher wollen Sie wissen, dass sie sich meinetwegen umgebracht hat? Schon mal daran gedacht, dass das Vergnügen Ihrer Gesellschaft ihr den Rest gegeben hat? Wenn ich den ganzen Tag jemandem wie Ihnen zuhören müsste, hätte ich wahrscheinlich auch gute Lust, mir die Pulsadern aufzuschlitzen.«
    »Sie werden sterben …«, platzte es wieder aus ihr heraus.
    Er schnitt ihr das Wort ab. »Lassen Sie sich doch mal was Neues einfallen. Und wenn Sie schon dabei sind, hier gleich noch was zum Nachdenken. Ich kenne da ein paar zornige junge Burschen, Harley-Fahrer, die leben in Wohnwagen, köcheln sich ihr eigenes Crystal Meth, vergewaltigen Kinder und erschießen ihre eigenen Frauen. Sie würden die wahrscheinlich Abschaum nennen, ich nenne sie Fans. Wie war's, soll ich mich mal umhören, ob ein paar von denen bei Ihnen in der Gegend leben? Die könnten mal auf einen Sprung bei Ihnen vorbeischauen.«
    »Keiner kann Ihnen helfen«, sagte sie mit gepresster und vor Zorn zitternder Stimme. »Das schwarze Mal, das Ihnen anhaftet, wird jeden infizieren, der sich Ihrer Sache anschließt. Sie werden nicht leben, und niemand, der Ihnen hilft, wird leben.« Die zornigen Worte hörten sich an, als rezitierte sie eine einstudierte Rede. Vielleicht war es das sogar. »Jeder wird vor Ihnen fliehen, oder er wird vernichtet werden, so wie Sie vernichtet werden. Sie werden einsam sterben, verstehen Sie? Einsam!«
    »Da war ich mir nicht so sicher. Wenn ich den Bach runtergehe, dann möchte ich dabei vielleicht Gesellschaft haben«, sagte Jude. »Und wenn ich keine Hilfe auftreiben kann, dann komme ich vielleicht selbst bei Ihnen vorbei.« Und damit knallte er den Hörer aufs Telefon.
    8
    Jude starrte wütend das schwarze Telefon an. Er umklammerte den Hörer so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er stand da und horchte auf das langsame, kriegerische Trommeln seines Herzschlags.
    »Boss«, sagte Danny leise. »Hei-li-ge Schei-ße.« Er lachte: dünn, keuchend, humorlos. »Was zum Henker war das denn?«
    Jude befahl seiner Hand, sich zu öffnen und den Telefonhörer loszulassen. Aber die Hand gehorchte ihm nicht. Die Gelenke waren steif, wie eingerastet. Er hatte Dannys Frage zwar registriert, aber nur als etwas, was er durch eine geschlossene Tür gehört hatte, als Teil einer Unterhaltung, die in einem anderen Raum stattfand und nichts mit ihm zu tun hatte.
    Allmählich sickerte die Tatsache in sein Bewusstsein ein, dass Florida tot war. Als er hörte, dass sie sich umgebracht hatte – als Jessica Price es ihm ins Gesicht schleuderte –, da hatte es ihm nichts bedeutet, weil er nicht zulassen konnte, dass es ihm etwas bedeutete. Jetzt konnte er es nicht mehr verdrängen. Er spürte das Wissen um ihren Tod in seinem Blut, das schwer, zäh und wie fremd durch seine Adern pumpte.
    Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie nicht mehr da war, dass jemand, mit dem er das Bett geteilt hatte, nun in einem Bett aus Erde lag. Sie war sechsundzwanzig gewesen – nein, siebenundzwanzig; mit sechsundzwanzig war sie ausgezogen. Hatte er sie weggeschickt. Mit ihren sechsundzwanzig Jahren hatte sie die Fragen einer Vierjährigen gestellt. Bist du früher oft am LakePontchartrain angeln gewesen? Wer war der beste Hund, den du je gehabt hast? Was passiert mit uns, wenn wir tot sind, was meinst du? Genug Fragen, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben.
    Sie hatte Angst davor gehabt, wahnsinnig zu werden. Sie hatte Depressionen gehabt. Nicht die Art von Depressionen, die manche Goth-Girls zelebrieren, weil sie gerade in Mode sind, sondern richtige klinische Depressionen. In ihren letzten zwei gemeinsamen Monaten war sie von ihnen überwältigt worden. Sie schlief nicht; sie weinte ohne Grund; sie vergaß, sich anzuziehen; sie starrte stundenlang in den Fernseher, ohne ihn anzustellen; ging zwar ans Telefon, wenn es klingelte, sprach dann aber nicht, sondern stand einfach nur mit dem Apparat in der Hand da, als hätte man ihr den Stecker rausgezogen.
    Doch davor hatten sie die Sommertage gehabt, an denen er in der Scheune den Mustang wieder hergerichtet hatte. Im Radio John Prine;

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