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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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verhext.«
    Seit damals wusste er, dass ihr Stiefvater ein Wünschelrutengängerund Mesmerianer und in Testament, Florida, als Geschäftspartner ihrer älteren Schwester ein gewerbsmäßiger Hypnotiseur war. Das war so ziemlich alles, was er über ihre Familie wusste. Jude bohrte nicht weiter nach – damals nicht und später auch nicht. Er war es zufrieden, das über sie zu wissen, was sie ihn wissen lassen wollte.
    Er hatte Anna drei Tage zuvor in New York kennengelernt. Er war in die Stadt gekommen, um zusammen mit Trent Reznor einen Song für einen Filmsoundtrack aufzunehmen – leicht verdientes Geld. Danach schaute er sich noch Trents Auftritt im Roseland Ballroom an. Anna war hinter der Bühne, ein zierliches Mädchen mit violettem Lippenstift und einer Lederhose, die beim Gehen quietschte. Eine der seltenen Blondinen unter den Goth-Girls. Sie fragte, ob er eine Frühlingsrolle wolle, holte ihm eine und sagte: »Ist es schwierig, mit so einem Bart zu essen? Bleibt da nicht dauernd was hängen?« Sie hatte kaum Hallo gesagt, da schoss sie schon ihre Fragen ab. »Warum lassen sich eigentlich so viele Kerle, also Biker und solche Typen, einen Bart stehen, damit sie so richtig furchterregend aussehen? Bei einer Schlägerei ist das doch ein Nachteil, oder nicht?«
    »Wieso soll ein Bart bei einer Schlägerei ein Nachteil sein?«, fragte er.
    Sie packte mit einer Hand seinen Bart und riss ruckartig daran. Sein Kopf fuhr nach unten, und ein stechender Schmerz durchzuckte die untere Hälfte seines Gesichts. Er knirschte mit den Zähnen und unterdrückte einen Wutschrei. Sie ließ los und redete weiter: »Also, wenn ich mit einem, der einen Bart hat, eine Schlägerei hätte, dann war das das Erste, was ich machen würde. ZZ Top, die wären ein Klacks. Die würde ich allein schaffen, alle drei, ich kleines Würstchen. Klar, die Jungs können da nicht raus, die dürfen sich gar nicht rasieren. Wenn die sich rasieren, würde ja keiner mehr wissen, wer sieüberhaupt sind. Na ja, wo ich jetzt drüber nachdenke, du sitzt ja im gleichen Boot. Der Bart, das bist du. Als kleines Mädchen, da hab ich Albträume gehabt, wenn ich deine Videos gesehen hab. He, weißt du was? Ohne deinen Bart wärst du total anonym. Schon mal daran gedacht? Hättest sofort Urlaub von dem ganzen Starrummel. Und außerdem ist er im Nahkampf von Nachteil. Zwei gute Gründe, sich mal zu rasieren.«
    »Nur dass mein Gesicht immer von Nachteil war, nämlich wenn ich Mädchen flachlegen wollte«, sagte er. »Wenn du von meinem Bart Albträume bekommen hast, dann solltest du mich mal ohne sehen. Du würdest wahrscheinlich nie mehr schlafen.«
    »Dann ist das also eine Verkleidung. Eine Tarnung. Wie dein Name.«
    »Was ist mit meinem Namen?«
    »Das ist doch nicht dein richtiger Name. Judas Coyne. Das ist ein Wortspiel.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Mal ehrlich, bei so einem Namen, deine Familie, sind das so durchgeknallte Christen, so Fundamentalisten? Würde ich drauf wetten. Mein Stiefvater sagt, die Bibel, das ist alles Quatsch. Seine Eltern waren Pfingstkirchler, aber er ist dann Spiritualist geworden, und so hat er uns auch erzogen. Er hat ein Pendel, das hält er dir vors Gesicht, fragt dich was, und je nachdem, wie das hin- und herschwingt, kann er sagen, ob du lügst oder nicht. Außerdem kann er damit deine Aura lesen. Meine ist so schwarz wie die Sünde. Wie ist deine Aura? Soll ich dir aus der Hand lesen? Ist ein Klacks. Handlesen ist das Leichteste von der Welt.«
    Drei Mal sagte sie ihm das Schicksal voraus. Beim ersten Mal kniete sie im Bett nackt neben ihm. Zwischen ihren Brüsten glänzte ein dünner Faden Schweift. Sie war noch erhitzt nach der Anstrengung und atmete schwer. Sie nahm seine Hand, fuhr mit den Fingerspitzen über die offene Handfläche und nahm sie genau unter die Lupe.
    »Schau dir bloß deine Lebenslinie an«, sagte Anna.
    »Die ist meilenlang. Schätze mal, du lebst ewig. Ich will gar nicht ewig leben. Wie alt ist eigentlich zu alt? Vielleicht ist das nur sinnbildlich. Dafür, dass deine Musik ewig lebt. Da ist viel Zeug zwischen den Linien, das einen in die Irre führt. Handlesen ist keine exakte Wissenschaft.«
    Beim nächsten Mal, kurz nachdem er den Mustang fertig restauriert hatte, waren sie in die Hügel rausgefahren, von denen man den Hudson überblicken konnte. Sie hatten an einer Bootsrampe angehalten und schauten auf den Fluss. Unter einem hohen blassblauen Himmel breitete sich das mit diamantenen Schuppen

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