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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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besprenkelte Wasser aus. Flaumige weiße Wolken, Hunderte von Metern hoch, säumten den Horizont. Jude hatte Anna eigentlich zu einem Termin bei einem Psychiater fahren wollen, den Danny für sie ausgemacht hatte, aber sie hatte ihn davon abgebracht, hatte gesagt, der Tag sei viel zu schön, um in einer Arztpraxis rumzuhocken.
    Sie saften da, die Fenster heruntergekurbelt, und die Musik spielte leise, als sie seine Hand nahm, die zwischen den Sitzen gelegen hatte. Es war einer von ihren guten Tagen, die immer seltener wurden.
    »Du wirst eine Liebe nach mir finden«, sagte sie. »Du bekommst noch eine Chance, glücklich zu werden. Aber ich weiß nicht, ob du die Chance nutzen wirst. Ich glaube nicht. Warum willst du nicht glücklich sein?«
    »Was meinst du damit, nach dir?«, fragte er. Dann sagte er: »Ich bin jetzt glücklich.«
    »Nein, bist du nicht. Du bist immer noch wütend.«
    »Auf wen?«
    »Auf dich selbst«, sagte sie, als läge das klar auf der Hand. »Als ob es deine Schuld wäre, dass Jerome und Dizzy gestorben sind. Als ob irgendwer die beiden vor sich selbst hätte schützen können. Außerdem bist du immer noch wütend auf deinen Vater. Für das, was erdeiner Mutter angetan hat. Für das, was er mit deiner Hand gemacht hat.«
    Der letzte Satz raubte ihm den Atem. »Wovon redest du da? Woher weißt du, was er mit meiner Hand gemacht hat?«
    Sie warf ihm einen kurzen Blick zu: einen belustigten, listigen Blick. »Was schau ich mir denn gerade an?« Sie drehte seine Hand um und fuhr mit dem Daumen über die vernarbten Knöchel. »Dafür muss man kein Hellseher oder so was sein. Man muss nur sensible Finger haben. Ich kann fühlen, wo die Knochen zusammengewachsen sind. Was war das, womit er dir die Hand zertrümmert hat? Ein Holzhammer? Die Finger sind wirklich schlecht verheilt.«
    »Die Kellertür. Ich war übers Wochenende abgehauen und hatte in New Orleans gespielt. Bei so einer Art Bandwettbewerb. Ich war damals fünfzehn. Und für den Bus hatte ich mir einen Hunderter aus der Familienkasse genommen. Hab das nicht als Diebstahl gesehen, weil ich dachte, wir gewinnen sowieso. Fünfhundert Dollar für den ersten Platz. Hätte alles zurückgezahlt, inklusive Zinsen.«
    »Und, was seid ihr geworden?«
    »Dritte. Für jeden ein T-Shirt«, sagte Jude. »Als ich nach Hause gekommen bin, hat er mich zur Kellertür geschleift und mir die linke Hand zerquetscht. Meine Griffhand.«
    Schweigend runzelte sie die Stirn und schaute ihn dann verwundert an. »Aber deine Griffhand ist doch die rechte.«
    »Jetzt schon.«
    Sie schaute ihn an.
    »Während die linke Hand langsam verheilt ist, hab ich mir selbst beigebracht, mit der rechten zu greifen. Und dann bin ich einfach dabei geblieben.«
    »War das schwer?«
    »Na ja. Ich war mir nicht sicher, ob meine Linke als Griffhand je wieder so gut werden würde wie vorher. Also hatte ich nur eine Wahl: auf die Rechte zu wechseln oder ganz aufzuhören. Und ganz aufzuhören wäre mir auf jeden Fall schwerer gefallen.«
    »Wo war deine Mutter, als das passiert ist?«
    »Weiß ich nicht mehr.« Das war gelogen. Die Wahrheit war, dass er das nie vergessen würde. Seine Mutter hatte am Tisch gesessen, als sein Vater ihn quer durch die Küche zur Kellertür gezerrt hatte. Er hatte geschrien, hatte sie um Hilfe angefleht, aber sie war nur aufgestanden, hatte sich die Ohren zugehalten und war in ihr Nähzimmer gegangen. Eigentlich konnte er ihr keinen Vorwurf machen, dass sie nicht eingegriffen hatte. Wahrscheinlich hätte es ihn irgendwann sowieso erwischt, auch wenn er die hundert Dollar nicht aus der Geldkassette genommen hätte. »Egal, ist schon gut so. Am Ende hab ich sogar besser Gitarre gespielt als vorher. Einen Monat lang hab ich den grässlichsten Krach produziert, den du dir vorstellen kannst. Bis mir einer erzählt hat, wenn ich die Hände wechseln wollte, dass ich dann die Saiten andersrum aufziehen müsste. Danach hab ich es ziemlich schnell draufgehabt.«
    »Außerdem hast du es deinem Alten gezeigt, richtig?«
    Er antwortete nichts darauf. Sie begutachtete seine Hand noch einmal und rollte ihren Daumen über sein Handgelenk. »Er ist noch nicht fertig mit dir. Dein Vater, meine ich. Du wirst ihn wiedersehen.«
    »Ganz bestimmt nicht. Ich hab ihn seit dreißig Jahren nicht mehr angeschaut. Er spielt keine Rolle mehr in meinem Leben.«
    »O doch. Und was für eine Rolle er spielt, jeden Tag.«
    »Komisch, und ich hab gedacht, wir hätten den Besuch beim Psychiater

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