Blinde Angst
versehen war, hatte sich inzwischen eine Schlange gebildet. Die Programme und Blumenarrangements hatte man bereits von den Tischen entfernt; man sah nur noch ein paar laminierte Namensschilder von Leuten, die nicht auf der Konferenz erschienen waren.
Drinnen im Saal spürte man die Stimmung des bevorstehenden Aufbruchs. Flugtickets rutschten aus zerknitterten Sportsakkos hervor, die Leute schlurften mit hängenden Schultern um die großen Kaffeemaschinen herum, die mit Bergen von süßem Gebäck umgeben waren. Diejenigen, die immer noch verkatert waren, grinsten sich verschmitzt an; die Fitness-Freaks, die gerade aus der Dusche kamen, zogen verächtliche Blicke auf sich.
Auf einem Tisch im hinteren Bereich des Saales standen Schilder mit der Aufschrift NIEDERLÄNDISCH, RUSSISCH, DEUTSCH, ARABISCH, HINDI und FRANZÖSISCH. Dahinter saßen gähnende Dolmetscher, die sich an ihren Kopfhörern zu schaffen machten, während sie sich Doughnut-Krümel vom Revers wischten und Kaffee tranken.
Hier waren Leute verschiedener Hautfarben und Kulturen anwesend. Sie kamen aus großen Städten und abgelegenen Orten, aus eisigen Steppenlandschaften oder Wüstengebieten. Doch so unterschiedlich sie auch in Sprache und äußerer Erscheinung sein mochten – sie hatten doch etwas Gemeinsames.
Man sah es zuerst in ihren Augen. Wenn man mit ihnen sprach, antworteten sie langsam und bedächtig. Sie wollten dem anderen nicht ins Wort fallen, widersprechen oder irgendwen beeindrucken. Sie sahen einem in die Augen und hörten zu, so als wäre das Zuhören allein schon etwas, dem man eine angemessene Zeit widmen musste.
Der Hotelbuchhalter hatte gegenüber dem Manager die Bemerkung fallen lassen, dass diese Leute etwas Unheimliches an sich hätten. »Man kommt sich in ihrer Gegenwart irgendwie nackt vor. So als würden sie irgendwelche schmutzigen kleinen Geheimnisse kennen, die man so hat.«
»Bitte, meine Herrschaften, noch fünf Minuten.« Eine Frau tippte auf ein Mikrofon, und die Verkaterten zuckten zusammen, während sich die Helfer beeilten, die hässlichen Rückkopplungsgeräusche abzustellen.
Die Menge rund um die Kaffeemaschinen begann sich aufzulösen – einige flohen vor dem Lärm, andere gingen noch einmal schnell zur Toilette in der Lobby.
Morgen um diese Zeit würden sie alle wieder zu Hause sein. Zurück an ihren Schreibtischen mit einem Berg Arbeit, weil sie wussten, dass das Verbrechen keine Pause kannte und dass es auf dieser Welt viel Arbeit gab für die erfahrensten Polizeiermittler des Planetens.
Sie hatten sich in dieser Woche mit allen möglichen Themen beschäftigt, von Waffenlieferungen in afrikanische Schurkenstaaten bis hin zu Durchbrüchen bei der Bekämpfung des Drogenhandels, nachdem Heroin aus Afghanistan in Turkmenistan sichergestellt werden konnte. Litauische Geldfälscher brachten Euroscheine in Spanien und Frankreich in Umlauf, und Biotechnologen in Miami entdeckten neue Wege, um Bomben anhand des Geruchs der enthaltenen Chemikalien aufzuspüren. Ermittler von Scotland Yard machten Fortschritte in ihren Bemühungen, radioaktives Material aufzuspüren, das aus der ehemaligen Sowjetunion herausgeschmuggelt wurde, darunter auch Polonium-210, mit dem der ehemalige KGB-Agent Alexander Litwinenko ermordet worden war.
Nur noch ein einziger Vortragender stand an diesem Vormittag auf dem Programm. Und wäre es nicht Helmut Dantzler gewesen, so wären wohl noch mehr Plätze im Saal leer geblieben, weil so mancher früher abgereist wäre. Aber Dantzler war in Polizeikreisen schon zu Lebzeiten eine Legende. Seine Karriere begann mit der Berufung in eine Zweigstelle des deutschen Bundeskriminalamtes, wo er Nachrichtendienstmaterial studierte, das Anfang der siebziger Jahre zur Ergreifung von Andreas Baader von der Baader-Meinhof-Bande führte. 1977 wechselte er zur GSG 9, jener dadurch weltbekannten Anti-Terror-Einheit, dass sie im Oktober des Jahres heimlich einer entführten Lufthansa-Maschine nach Mogadischu gefolgt war, wo ein Spezialteam das Flugzeug stürmte und sechsundachtzig Passagiere aus den Händen der RAF befreite. In den achtziger Jahren leitete Dantzler verschiedene GSG-9-Operati-onen in Fällen von Entführung, Geiselnahme und Bombenattacken im Ausland, und Anfang der Neunziger wechselte er zum deutschen Geheimdienst, um die Terrorbedrohung aus dem Ausland zu beobachten. In dieser Zeit beschäftigte sich Dantzler zum ersten Mal mit der russischen Auswanderung nach Tschechien und mit einer neuen
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