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Blinde Angst

Titel: Blinde Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George D Shuman
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Pergament aussah. Sie betrachtete ihn aufmerksam, während sie eine Jujube mit einem Taschenmesser schälte. Wahrscheinlich wartete sie auf jemanden, der geröntgt wurde. Es war wieder einmal eine blutige Nacht in St. James Parish gewesen. Inspektor George wich den Reportern aus, die auf den Gängen nach Angehörigen der Opfer einer Schießerei suchten. Die alte Frau war wahrscheinlich auch in den Warteraum gekommen, um den Medienleuten zu entkommen. Wenn sie eine Angehörige war, so zeigte sie jedenfalls keine äußeren Anzeichen von Trauer oder Betroffenheit. Aber hier in den Gettos zeigte der Gesichtsausdruck nicht immer, was wirklich in den Menschen vorging. Für viele hier war Leben und Leiden praktisch dasselbe.
    Inspektor George dachte an seinen Telefonanruf im Justizministerium. Seine Vorgesetzten interessierten sich viel mehr dafür, wo genau er die Leiche im Meer entdeckt hatte, als dafür, was mit dem Mädchen passiert war. Das gab ihm eine gewisse Freiheit, so vorzugehen, wie er es für richtig hielt, solange er beteuerte, dass sie in internationalen Gewässern gefunden worden war.
    George wusste, dass es mit dem Dreifachmord von letzter Nacht bereits jetzt mehr Morde in Jamaika gab als in den vorangegangenen Jahren – und in den verbleibenden zwei Monaten würden wohl noch einige dazukommen. Es war ein Albtraum für Premierministerin Portia Simpson-Miller. Sie hatte ohnehin schon genug mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen, und jetzt zeigten die Kriege zwischen den Drogenbanden wieder einmal, dass die Straßenkriminalität im Land alles andere als ausgerottet war. Wenn es etwas gab, was Jamaikas schwächelnde Wirtschaft hart traf, dann ein Rückgang im Tourismus – eine Tatsache, auf die auch die Weltbank in einem Bericht an die Vereinten Nationen hingewiesen hatte. Das Verbrechen fügte der Insel irreparablen Schaden zu – und das war das Letzte, was die Premierministerin bei ihren Bemühungen, die Wirtschaft des Landes zu fördern, gebrauchen konnte.
    Inspektor Rolly King George wusste, dass die Premierministerin es gern vermeiden würde, dass die Ermordung dieser Frau noch mehr Schlagzeilen über die Kriminalität in Jamaika brachte. Es wäre also im Interesse der Regierung, wenn er Hinweise fände, aus denen sich schließen ließe, dass das Opfer und seine Mörder nichts mit Jamaika zu tun hatten. Er hatte seinem Polizeipräsidenten schon versichert, dass es in Jamaika keine Informationen über diese Frau gäbe; sie schien in keinem Hotel, keinem Kreuzfahrtschiff und für keinen Flug registriert zu sein. Und deshalb wurde ihm auch gestattet, sich mit dem offiziellen Bericht Zeit zu lassen.
    Das Handy des Inspektors klingelte, er meldete sich und stand von seinem Platz auf. Die alte Frau sah ihm nach, als er zur Tür ging, und legte mit dem Messer ein Stück von der Jujube auf ihre Zunge.
    »Hallo«, sagte er und ging durch den Korridor auf ein Ausgangsschild zu.
    »Rolly King George?«, fragte Dantzler mit seinem ausgeprägten deutschen Akzent.
    Der Inspektor ging durch eine Tür, die in den Hof des Krankenhauses führte, zu einer Parkbank, die von pink-farbenen Hibiskusblüten umgeben war. Er setzte sich und blickte zum Himmel, wo er den Kondensstreifen eines Flugzeugs sah, der die Türme der beiden Flügel des Krankenhauses miteinander zu verbinden schien. Klimaanlagen ratterten in den Fenstern, aus denen Wasser tropfte, das verdampfte, noch ehe es sich auf dem gelben Gras sammeln konnte. Er war seit dem Morgengrauen auf und hatte seit gestern Abend nichts mehr gegessen; sein Magen knurrte.
    »Ja«, sagte er.
    »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten – etwas, das einen gewissen Glauben von Ihrer Seite voraussetzt. Es geht darum, dass Sie einer Freundin von uns Zugang zu der Leiche gewähren. Wenn Sie einverstanden wären, würde ich die Frau ersuchen, dass sie noch heute Nachmittag nach Jamaika fliegt.«
    Inspektor George blickte zum Himmel hinauf und schüttelte den Kopf, wie um ihn zu klären. Der Kondensstreifen zwischen den Türmen begann sich aufzulösen.
    »Ist sie eine Ermittlerin? Oder eine Wissenschaftlerin?«
    »Nicht im eigentlichen Sinn – aber lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen, Inspektor George. Glauben Sie, dass es Leute gibt, die mit den Toten in Kontakt treten können?«

15
    Philadelphia, Pennsylvania
    Sherry Moore saß mit dem Telefon im Schoß in ihrem Sessel. Bei der Haustür hatte sie immer eine gepackte Reisetasche stehen. Sie dachte lange darüber nach, bevor

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