Blinde Angst
immer perfekt manikürt, waren kurz geschnitten, eingerissen und schmutzig vom Sand. Sie hielt sich in diesen Tagen fast nur in den Straßen und auf dem Markt auf, wo ihre Tochter verschwunden war. Und in ihren abgelaufenen Sandalen lief sie auch immer wieder zum Strand, um den Leuten das Bild ihrer Tochter zu zeigen und mit jedem zu sprechen, der sich Zeit für sie nahm.
Sie nannten sie inzwischen madre de la muchacha per-dida, die Mutter des verschwundenen Mädchens.
Es war nun schon einige Monate her, dass Jill verschwunden war. Niemals würde sie den Abend vergessen. Nicht solange sie lebte.
Der Kapitän hatte still und leise das Schiff nach ihr absuchen lassen. Seine Leute machten immer wieder Durchsagen über die vielen Lautsprecher an Bord. Offiziere durchsuchten Personalkabinen, und in den Geschäften an Bord wurde überprüft, ob Jill Bishops Gästekarte irgendwo gescannt worden war. Die Bilder der vielen digitalen Kameras auf dem Schiff wurden heruntergeladen, um sie, wenn nötig, den Ermittlern der Polizei zur Verfügung zu stellen. Doch drei Tage später hatte man immer noch keine Spur von Jill gefunden, nicht seit jenem Morgen, an dem sie gefilmt worden war, wie sie das Schiff verließ.
Das FBI kam in Miami an Bord, doch nachdem die Ermittler einen Tag und eine Nacht lang Informationen eingeholt hatten, wusste Carol genauso wenig wie vorher. Sie nahm ein Flugzeug nach Santo Domingo und hatte die Insel seither nicht mehr verlassen.
Sie hörte Gelächter, blickte aber nicht auf.
Ihre Tochter war genau hier gewesen, hier in dieser Stadt mit ihren zwei Millionen Menschen – und niemand sollte ihr Verschwinden bemerkt haben? Die Antwort musste immer noch hier irgendwo sein, dachte sie. Nicht daheim in den Staaten oder an Bord der Constellation, wo der charismatische italienische Kapitän seine neuen Passagiere mit seinem Charme bezauberte.
»... vor der Ostküste von Jamaika gefunden wurde, soll es sich um eine weiße Frau handeln. Wie aus Polizeikreisen verlautet, geht man von Ertrinken aus, obwohl die Todesursache noch nicht eindeutig festgestellt wurde. Bei einer Schießerei zwischen zwei Banden in Spanish Town sind ...«
Carol blickte sich nach dem Radio um, aus dem die Meldung gekommen war, und sah ein asiatisches Paar mit kleinen Kindern.
Sie stand auf und wusste nicht recht, was sie tun sollte. Dann lief sie los.
17
Morne Mansinte, Haiti
Der Hungan, der hiesige Voodoo-Priester, wischte sich mit seinen knotigen Händen, die nach Fisch und faulen Eiern stanken, Fliegen aus den trüben Augen. Er tauchte die Finger in eine rostige Suppendose, beugte sich über den Toten und malte einen senkrechten gelben Strich auf seine Stirn, dann weiter über die Nase und den Mund, sodass das Gesicht in zwei Hälften zerteilt war. Er tauchte die Finger erneut ein und zog die Linie weiter über die Brust hinunter, über den Bauch bis zum Unterleib, wo er einen gelben Kreis um ein schwarzes Einschussloch malte. Der Hungan tappte mit der Hand über den Boden, bis er eine Sardinenbüchse mit halb geronnenem Blut fand. Mit den Fingerspitzen malte er rote Punkte in den Kreis.
Der Tote war nackt bis auf die graue Unterhose. Der Priester stellte die Sardinenbüchse auf den Boden, nahm eine Hand des Toten und warf den Kopf zurück, die leeren Augen zu den Sternen gerichtet. Ein Mann, der ihm gegenübersaß, schlug einen Rhythmus auf einer alten Ziegeniedertrommel. Drei Hunsis, die Gehilfinnen des Priesters, standen auf und begannen zu tanzen; sie schüttelten sich, sodass sich ihre weißen Kleider bauschten. Mit nackten Füßen stapften sie auf dem sandigen Lehmboden um das Feuer herum, den Kopf immer hin und her rollend. Eine der Frauen schüttelte eine Kürbisrassel, die mit getrocknetem Mais gefüllt war.
»Siehst du ihn?«, fragte die Frau neben dem Hungan. »Kommt er heute Nacht?«
Sie trug einen grünen Nike-Trainingsanzug und rot-weiße Reebok-Schuhe. An einem Handgelenk trug sie billige Armreifen und um den Hals eine unechte Goldkette. Der alte Hungan ignorierte sie, er legte eine Hand auf den Kreis mit den roten Punkten auf dem Bauch des Mannes und drückte die Finger in die aufgedunsene Haut. Der Schein des Feuers spiegelte sich in seinem fettigen schwarzen Gesicht und den trüben weißen Augen. In höchster Konzentration drückte er mit der anderen Hand die Hand des Toten.
»Pioche sieht dich jetzt an«, verkündete der Voodoo-Priester in breitestem Patois. »Er sagt, such ein Bild von einer
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