Blinde Angst
unsererseits an einen Oberst von der Nationalpolizei gewandt, den unsere Freunde vom französischen Geheimdienst gut kennen. Er leitet die haitianische Drogen-Spezialeinheit und wurde von eurer DEA ausgebildet. Leider kann er in seiner Funktion nicht viel ausrichten. Er liefert den Franzosen Informationen über das politische Klima im Präsidentenpalast und warnt sie, wenn französische Investitionen im Land gefährdet sind. Ansonsten ist seine Rolle mehr die einer symbolischen Geste an die amerikanische Regierung. Er sagt, dass die Polizei absolut nichts gegen den Kokainhandel unternimmt, der durch Haiti geht. Er traut nicht einmal seinen eigenen Leuten.«
»Verzeihung«, unterbrach ihn Sherry, »aber Sie haben doch gesagt, die DEA hat ihn ausgebildet. Gibt es dann nicht noch mehr haitianische Polizisten, die von der DEA geschult wurden?«
»Die Amerikaner haben einzelne Angehörige der Drogen-Spezialeinheit ausgebildet und dafür dem Land Wirtschaftshilfe zukommen lassen. Sie haben ungefähr vierzig Millionen Dollar für eine Reform der Polizeiorganisation in Haiti aufgewendet.«
»Und was bedeutet das konkret?«
»Der Oberst hat begrenzte Mittel, einen Hubschrauber und eine Handvoll Männer, aber schon ein Hubschrauber ist mehr als wir im Moment nach Haiti bekommen können. Wir müssen schon darüber froh sein.«
»Wonach sucht er genau?«
»Nach irgendwelchen Aktivitäten, für die man einen Sprengexperten braucht – staatliche oder private Bauprojekte, Bergbau und dergleichen.«
»Gehört den Mendozas irgendetwas in Haiti?«
»Nicht offiziell.«
»Sie haben eine Puppe erwähnt. Was hat es damit auf sich?«
»Das kommt aus dem Voodookult. Das sind sehr abergläubische Menschen, Miss Moore.«
»Was bedeutet die Puppe?«
»Jemand will der Familie sagen, dass die Seele des Toten in Gefahr ist. In Haiti glauben viele, dass die Toten zu Zombies werden können, die in alle Ewigkeit irgendwelchen Herren dienen müssen. Für die Nachfahren von Sklaven kann es kein schlimmeres Schicksal geben. Man bezahlt Zauberer oder Bokors, wie sie genannt werden, dafür, dass sie einen Feind mit einem Fluch belegen.«
»Was ist mit dem Bleistift und Papier in seinem Mund?«
»Wir haben uns beides von der Entwicklungshelferin von World Freedom schicken lassen. Die Leute in unserem Labor haben eine Handschrift auf dem Papier gefunden, außerdem DNA vom Toten. Es war kaum mehr als ein Name - Aleksandra. Es war auf Polnisch geschrieben.«
»Sie war eines der Mädchen, die der Tote dort sah, wo er gearbeitet hat«, sagte Sherry.
»Wahrscheinlich, wenn die Geschichte stimmt.«
»Und Sie haben vor einer Woche überlegt, ob Sie mich nach Haiti schicken sollen, um zu sehen, ob ich an die Leiche des Mannes herankommen kann?«
Dantzler lachte. »Sicher nicht, Miss Moore. Vor einer Woche hätte ich bestimmt nicht daran gedacht, Sie anzurufen. Man kann in Haiti wenig ausrichten – aber man kann leicht in Gefahr geraten. Und die Geschichte des Toten war zwar sehr überzeugend – aber wenn Sie im Land aufgetaucht wären, hätte das nicht nur sie selbst, sondern auch die Witwe, ihre Tochter und die Mitarbeiterin von Madame Esme in Gefahr gebracht.«
Sherry seufzte frustriert. »Ich hätte unbemerkt hinein- und hinauskommen können, Mr. Dantzler. Vielleicht hätte ich Ihnen sagen können, wo der Tote gearbeitet hat. Jetzt wird er begraben, und die Gelegenheit ist vertan.«
»Also, erstens einmal kann man unmöglich einen Zusammenhang zwischen dem, was Sie am Denali gesehen haben, und dem Toten herstellen. Wir haben keine Beweise, dass die Mendozas in irgendeiner Weise in Westhaiti aktiv sind. Es gibt viele mögliche Ursachen für die Ermordung des Mannes, darunter auch Drogen, wie die Polizei dort meint.«
Dantzler hielt kurz inne. »Miss Moore«, fuhr er schließlich fort, »ich möchte Ihnen einfach nur ein paar Hintergrundinformationen geben. Wenn ich es für klug hielte, Sie nach Haiti zu schicken, würde ich keinen Moment zögern. Im Übrigen wurde der Tote noch nicht beerdigt. Im Voodoo glauben sie, dass die Seele noch neun Tage auf der Erde weilt. Die neunte Nacht der Totenwache nennt man denye priye, das letzte Gebet; man hält eine Feier ab, um die Seele des Toten davon abzuhalten, weiter auf der Erde herumzustreifen. Erst dann wird er oder sie beerdigt.«
»Erzählen Sie weiter, Mr. Dantzler.«
»Heute Vormittag ist etwas passiert, etwas nicht weniger Dringendes, aber weit weniger Gefährliches, als Sie nach Haiti
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