Blinde Flecken: Schwarz ermittelt
tatsächlichen Entlassung zwei, drei oder noch fünf Tage zu warten hatte, aber er wusste, dass die Zeit zum Handeln gekommen war. Ein ungeheures Hochgefühl erfasste ihn.
Er trat unters Fenster und schaute zu dem schmalen Stück Himmel. Seit mehr als drei Jahren war das seine Aussicht. Er hatte in grauen Nebel gestarrt und auf schwarze Wolken, hatte strahlende Bläue gesehen und absolute Dunkelheit. Er hatte neue Sterne und Sternbilder entdeckt, aber es hatte mehr als ein Jahr gedauert, bis er den ersten Buchstaben sah. Inzwischen gelang es ihm, jedes Wort in seinem Kopf an dieses schmale Stück Himmel zu projizieren.
Alles hat seine Zeit
, stand da, oder
Feuer reinigt
oder
Aus der Zerstörung kommt das Heil
.
Heute stand
Gnade vor Recht
am Himmel. Zu einem großen Festtag gehörte ein Gnadenakt. Er hatte alle Biographien gelesen, die ihm der Anstaltsleiter genehmigt hatte, über Friedrich den Großen, Bismarck und von Hindenburg. Er war nicht so größenwahnsinnig, sich mit diesen Männern zu vergleichen, er hatte nicht das Zeug zum Führer. Er war nur ein Werkzeug. Ein Schwert. Ein messerscharfes,blitzendes, die Augen blendendes Schwert. Nur mit solchen Schwertern werden Kriege gewonnen.
Marco, dieses arme Würstchen, das die Kameraden gefangen hielten und das sich jetzt vor Angst in die Hosen machte, wäre ein Fall für einen Gnadenakt. Aber Marco war stur, unbegreiflich stur für einen Schwächling.
36.
Schwarz wartete zu Hause in der Landsberger Straße darauf, dass Loewi sich wie versprochen meldete. Er war unruhig wie seit langem nicht mehr und lief ziellos in dem alten Tanzsaal herum. Der Verkehrslärm kam ihm lauter vor als sonst, das ununterbrochene Dröhnen der Motoren, das Hupen und Reifenquietschen zerrte an seinen Nerven. Wie soll ein normaler Mensch das aushalten, dachte er, und fragte sich im nächsten Moment, ob er überhaupt noch normal war.
Das Telefon läutete. Er stürzte zum Apparat, der neben dem Bett stand.
»Mama, du.«
»Das klingt ja begeistert.«
»Doch, natürlich. Wie geht’s dir denn?«
»Nicht gut, Anton. Gar nicht gut.«
Hildegard Schwarz gehörte nicht zu den alten Frauen, die ständig über ihre Zipperlein klagten.
Unkraut vergeht nicht
, war eine ihrer Standardantworten, oder
Ich habe schon ganz andere Sachen überlebt
.
»Was ist denn los?«
»Ich weiß nicht. Mir ist dauernd schwindlig.«
»Warst du beim Arzt?«
»Ich geh doch zu keinem Arzt. Die leben ja davon, dass man krank ist.«
»Du musst dich untersuchen lassen, Mama. Wann hat das denn angefangen?«
»Nach deinem letzten Besuch.«
Schwarz schwante etwas. Er versuchte, seiner Stimme einen möglichst harmlosen Klang zu geben. »Und hast du irgendeine Erklärung?«
Sie schwieg.
»Belastet dich etwas?«
Sie zögerte. Offenbar war sie nicht sicher, wie weit sie gehen konnte.
»Ich habe geträumt, dass du umgebracht wirst.«
Also doch. Sie wollte nach wie vor ihren Kopf durchsetzen.
»Das ist geschmacklos, Mama.«
»Sind deine Träume immer geschmackvoll?«
»Ich weiß genau, worauf du hinauswillst. Aber ich gebe diesen Auftrag nicht zurück. Dafür ist es auch zu spät.«
»Mir geht’s wirklich schlecht, Anton.«
»Mama, ich kenne keine Frau in deinem Alter, die so fit ist – und solche Mengen Wundalkohol verträgt.«
»Schade, dass du mich nicht ernst nimmst«, sagte sie und klang dabei so geknickt, dass sie ihm leidtat. Ich muss trotzdem hart bleiben, dachte er. Wenn sie merkt, dass diese Masche funktioniert, bin ich in alle Zukunft erpressbar.
»Pass gut auf dich auf, Anton«, sagte Hildegard.
»Klar«, sagte Schwarz, aber da hatte sie schon aufgelegt.
Loewi rief erst zwei Stunden später an.
»Ich würde Sie gern ins
Eliseo
einladen? Kennen Sie das?«
Was für eine Frage. Das Restaurant war seit dreißig Jahren ein Wallfahrtsort für Liebhaber der italienischen Küche.Trotzdem musste man nicht wie in anderen Gourmet-Tempeln monatelang im Voraus reservieren, denn das
Eliseo
befand sich in einem barackenartigen Flachbau unweit einer von den Stadtplanern aufgegebenen Laimer Kreuzung. Der gemeine Münchner Neureiche sah sich außerstande, sein Geld an einem so trostlosen Ort zu lassen.
Genau das war das Kalkül von Enzo, der einst als Aktivist der
Kommunistischen Partei Italiens
zur Agitation seiner werktätigen Landsleute nach München gekommen war und seine außergewöhnliche Begabung als Koch eher zufällig bei einem Sommerfest der Genossen entdeckt hatte: Er wollte keine
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