Blinde Goettin
quengelndes, trotziges Kleinkind.
»Ich habe einige Vollmachten«, log sie. »Große Vollmachten. Rat mal, ob du übel dran bist. Das kann sich aber durchaus ändern, wenn du ein bißchen guten Willen zeigst. Ein bißchen Flexibilität. Ein paar Informationen. In welcher Beziehung stehst du zu Anwalt Jørgen Lavik?«
Sie fragte nun zum zwölftenmal. Sie hatte auch diesmal kein Glück. Ziemlich entnervt überließ sie den Häftling Kaldbakken, der bisher stumm in einer Ecke gesessen hatte. Vielleicht konnte der etwas aus dem Burschen herausholen. Allerdings glaubte sie nicht richtig daran.
Håkon zeigte sich erwartungsgemäß deprimiert, als sie Bericht erstattete. Dem Mann aus Røa waren Höllenqualen offenbar lieber als Repressalien durch Lavik und seine Organisation. Die Polizei hatte ihn nicht so gut im Griff, wie Hanne und Billy T. sich das nachts so begeistert ausgemalt hatten. Aber noch war die Schlacht nicht verloren.
Fünf Stunden später war sie das. Kaldbakken machte der Sache ein Ende. Der flennende Häftling durfte sich in seiner eigenen Gesellschaft amüsieren, und Kaldbakken zog Hanne mit auf den Flur.
»Wir können so nicht weitermachen«, sagte er leise und umklammerte die Türklinke, als ob er sichergehen wollte, daß die nicht gestohlen wurde, »der ist total erschöpft. Er muß sich ausruhen können. Außerdem muß ein Arzt einen Blick auf ihn werfen. Dieses Zittern ist nicht normal. Wir müssen es morgen wieder versuchen.«
»Morgen ist es vielleicht zu spät!«
Kommissarin Wilhelmsen war total verzweifelt, aber das half ihr nichts. Kaldbakken hatte sich entschlossen, und in seinen Entschlüssen war er unerschütterlich.
Håkon nahm die schlechten Neuigkeiten wortlos auf. Hanne blieb ein Weilchen unschlüssig bei ihm sitzen, dann fand sie, es sei am besten, ihn sich selbst zu überlassen.
»Übrigens habe ich Karens Aussage in dein Fach gelegt«, sagte sie, ehe sie ging. »Ich hab’ sie am Freitagabend nicht mehr kopieren können. Kannst du das erledigen, ehe du gehst? Ich hau’ ab. Erster Advent.«
Letzteres war als Entschuldigung gemeint, aber überflüssig. Er winkte ihr flüchtig nach. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, ließ er den Kopf auf die Arme sinken. Er war zu Tode erschöpft. Er wollte nach Hause.
Das Problem war, daß er vergaß, Kopien zu machen. Das fiel ihm erst ein, als er schon halb zu Hause war. Egal, das hatte Zeit bis morgen.
Obwohl er sich dem Pensionsalter näherte, bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit eines Athleten. Es war vier Uhr, in der Nacht zum Montag, ein Zeitpunkt, zu dem 95 Prozent der Bevölkerung schlafen. Ein frisch angezündeter, riesiger Weihnachtsbaum zwinkerte unten im Foyer mit den Lichtern, um sich wachzuhalten. Außerdem sickerte bläuliches Licht von der Notrufzentrale durch die Glaswand. Ansonsten war es dunkel. Die Gummisohlen gaben kein Geräusch von sich, als er durch den Flur lief. Er umklammerte den beeindruckenden Schlüsselbund, um ein Klirren zu verhindern. Als er das Büro mit Håkon Sands Namensschild erreicht hatte, fand er bald den richtigen Schlüssel. Sekunden später hatte er die Tür hinter sich geschlossen und zog eine große, mit Gummi beschichtete Taschenlampe hervor. Der Strahl war extrem kräftig, für einen Moment war er fast geblendet.
Es war fast zu leicht. Der Ordner lag vor ihm auf dem Tisch, und ganz oben lag die Aussage, um die es ihm ging. Rasch blätterte er die anderen Papiere durch, aber offenbar existierten keine weiteren Kopien. In diesem Ordner jedenfalls nicht. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe über das Blatt wandern. Es war das Original! Rasch faltete er es zusammen und verstaute es in einer tiefen Tasche seiner geräumigen Tweedjacke. Dann sah er sich um und vergewisserte sich, daß alles so aussah, wie er es vorgefunden hatte. Er ging zur Tür und knipste die Taschenlampe aus, ehe er hinausschlüpfte und hinter sich abschloß. Dann öffnete er, ebenfalls mit einem seiner Schlüssel, eine weitere Tür auf diesem Gang. Auch hier lag alles über den Fall auf dem Schreibtisch, aufgeteilt in zwei ordentliche Stapel. Hier brauchte er länger für seine Suche. Die Aussage lag nicht dort, wo sie hingehört hätte. Er suchte weiter, aber da das achtseitige Dokument nicht zu finden war, fing er an, systematisch an anderen Stellen zu suchen.
Fünfzehn Minuten später gab er es auf. Es existierte offenbar keine Kopie. Dieser Gedanke war aufmunternd und nicht ganz unlogisch. Er hatte
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