Blinde Goettin
aufzunehmen. Er wußte genau, wo Karen war. Vor neun Jahren hatte der gesamte Fachschaftsrat einen Ausflug dorthin unternommen. Damals hatte er das Gefühl gehabt, die Frau sei vielleicht ein bißchen in ihn verliebt. Der politische Abgrund zwischen ihnen hatte allerdings alle Annäherungsversuche unmöglich gemacht. Aber damals sollte der Numerus clausus eingeführt werden, und sie hatten die großpolitischen Kriegsbeile beiseite gelegt, um gemeinsam gegen die Aussperrung studierwilliger Menschen zu kämpfen. Karen Borg hatte sich für dieses historische Treffen als Gastgeberin angeboten. Dabei hatte der Wein eine größere Rolle gespielt als die Politik, aber soweit er sich erinnern konnte, war es ein nettes Wochenende gewesen.
Er hatte es eilig, und es würde nicht leicht sein, die Rinderbremsen abzuschütteln, die ihn noch eine Weile umschwirren würden. Es mußte möglich sein. Wenn er Karen Borg los war, konnten sie ihm nichts mehr anhaben. Sie war die letzte Sperre zwischen ihm und der endgültigen Freiheit.
Der dunkelblaue Volvo erreichte die Garage, rutschte auf der glatten Auffahrt ein wenig, fand aber doch seinen Platz, wie ein altes Pferd nach einer harten Schicht den Stall findet. Lavik beugte sich zu seiner blassen Frau, die hinter dem Steuer saß, küßte sie zärtlich und dankte ihr für ihre Unterstützung.
»Jetzt ist alles wieder gut, Wuschel«, sagte er.
Sie schien das nicht so ganz zu glauben.
Sollte er anrufen oder nicht? Sollte er hinfahren oder nicht? Ruhelos wanderte er durch seine kleine Wohnung, der anzusehen war, daß er lange Zeit nur hereingeschaut hatte, um sich saubere Kleider und eine Mütze voll Schlaf zu holen. Jetzt hatte er keine sauberen Kleider mehr, und Schlaf war auch nirgendwo zu finden.
Ihm wurde schwindelig, und er mußte sich am Regal festhalten, um nicht zu fallen. Eine eingestaubte alte Flasche Rotwein stand zum Glück noch hinten im Küchenschrank. Nach einer halben Stunde war sie leer. Der Fall war verloren. Karen wahrscheinlich auch. Es hatte keinen Sinn, sie anzurufen. Alles war vorbei. Er fühlte sich elend und machte sich über eine Flasche Aquavit her, die seit dem letzten Weihnachtsfest im Kühlschrank stand. Schließlich tat der Alkohol die erwünschte Wirkung. Håkon schlief ein. Es war ein böser, gemeiner Schlaf, mit Albträumen von großen teuflischen Anwälten, die ihn verfolgten, und einer winzig kleinen gelben Gestalt, die auf einer Wolke am Horizont stand und ihn rief. Er versuchte, zu ihr zu rennen, aber seine Beine waren wie Pudding, und er kam nicht weiter. Schließlich verschwand sie ganz, und er blieb auf dem Boden liegen; die gelbe Gestalt flog davon, und die Geier in ihren Roben hackten einem Polizeiadjutanten die Augen aus.
DIENSTAG, 1. DEZEMBER
Endlich bekamen all das Geglitzer und die grellen Plastiklampen, die Weihnachtsdekoration genannt wurden, einen Sinn. Jetzt war jedenfalls Dezember. Der Schnee war wieder da, und der Einzelhandel hatte eifrig zu Protokoll gegeben, daß der Konsum des norwegischen Volkes im Laufe des Jahres um einige Prozent gestiegen war. Das schuf große Erwartungen und wurde zur Begründung für prunkende Fensterdekorationen. Die Linden auf Karl Johan vertraten ihre benadelten Kusinen und standen nackt und verlegen mit ihren Weihnachtskerzen da. Vor zwei Tagen waren die Lichter an riesigen Tannen auf dem Universitetsplass feierlich angezündet worden. Heute freute sich darüber nur ein verhuschter Heilsarmist, der die Füße gegeneinanderschlug und erwartungsvoll den Morgenmenschen entgegenlächelte, die an seiner Sammelbüchse vorübereilten, ohne auch nur eine Minute anzuhalten und den großen Baum zu bewundern.
Jørgen Ulf Lavik wußte, daß er beschattet wurde. Mehrmals blieb er unvermittelt stehen und sah sich um. Es war unmöglich zu sehen, wer hinter ihm her war. Alle hatten denselben leeren Blick; einige wenige sahen Anwalt Lavik neugierig an, als ob sie ihn erkannten. Wo hatten sie ihn bloß schon mal gesehen? Zum Glück waren die Bilder in den Zeitungen so schlecht und so alt gewesen, daß er wohl kaum direkt erkannt werden konnte. Aber er wußte, daß sie ihm auf den Fersen waren. Das machte die Lage kompliziert, lieferte ihm aber auch ein Spitzenalibi. Er konnte alles zu seinem Vorteil wenden. Er holte tief Atem und fühlte sich kristallklar im Kopf.
Sein Besuch in der Kanzlei war kurz. Die Vorzimmerdame hätte in ihrer Wiedersehensfreude fast ihr Gebiß verloren, sie gab ihm einen Kuß, der
Weitere Kostenlose Bücher