Blinde Goettin
belanglose Fälle, die schon so alt waren, daß er versucht hatte, sie da unten vor seinem schlechten Gewissen zu verstecken. Er war so erschöpft, daß sein Gewissen sich auch beim Wiedersehen nicht regte.
Die Aussage befand sich überhaupt nicht in seinem Büro. Seltsam, er hätte schwören können, daß er sie hierhin, oben auf den Stapel, gelegt hatte. Mit tiefem Stirnrunzeln dachte er an den Vortag zurück. Er hätte Kopien machen sollen. Das hatte er vergessen. Oder war er doch im Kopierzimmer gewesen? Er ging dort nachsehen.
Die Maschine dröhnte, und eine untersetzte Schreibkraft von vielleicht Sechzig versicherte ihm, daß hier nichts gelegen hatte, als sie gekommen war. Trotzdem sahen sie hinter und unter dem Kopierer nach. Auch dort hatte sich die Aussage nicht versteckt.
Hanne hatte sie auch nicht. Kaldbakken hatte schon um eine Kopie gebeten; er zuckte nur genervt mit den Schultern und schwor, die Aussage nicht in der Hand gehabt zu haben.
Nun machte Håkon sich ernsthaft Sorgen. Die Aussage bildete die einzige vage Hoffnung auf eine Haftverlängerung. Ehe er am Vorabend nach Hause gefahren war, hatte er sie mit vor Anstrengung brennenden Augen überflogen. Genau das hatte er sich gewünscht. Gründlich und tiefschürfend. Überzeugend und gut formuliert. Aber wo, zum Henker, steckte sie jetzt?
Höchste Zeit, Alarm zu schlagen. Es war halb zehn, und bis zwölf mußte der Verlängerungsantrag dem Untersuchungsgericht vorliegen. Eigentlich hatte die Verhandlung um halb neun beginnen sollen, aber Christian Bloch-Hansen hatte schon am Freitag um einige Stunden Aufschub gebeten. Die Polizei war damit sehr zufrieden gewesen. Der Anwalt hatte vormittags eine Hauptverhandlung und wollte ungern einen anderen schicken. Sie hatten noch zweieinhalb Stunden Zeit. Im Grunde reichte das nur, um den Antrag zu diktieren. Zeit für eine Suchaktion hatten sie nicht. Aber ohne die Aussage keine Haftverlängerung. Um halb elf wurde die Aktion abgeblasen. Die Aussage war und blieb verschwunden. Hanne war unglücklich und nahm alle Schuld auf sich. Sie hätte sofort Kopien machen müssen. Ihre bedingungslose Übernahme der Verantwortung half Håkon nicht im geringsten. Alle wußten, daß er die Papiere als letzter gesehen hatte.
Karen konnte kommen und eine Aussage machen. Er würde eine Stunde Aufschub erwirken, dann konnte sie es schaffen. Sie mußte es schaffen.
Aber sie ging nicht ans Telefon. Håkon versuchte es fünfmal. Vergeblich. Ach, verdammt. Panik erfaßte den Polizeiadjutanten und kroch mit dünnen scharfen Krallen sein Rückgrat hoch. Es war scheußlich. Er schüttelte heftig den Kopf, aber das half auch nichts.
»Ruf in Sandefjord oder Larvik an. Die sollen sie holen. Und zwar sofort.«
Sein Kommandoton konnte seine Angst nicht kaschieren. Das machte nichts. Hanne Wilhelmsen fürchtete sich nicht. Als sie mit der Polizei in Larvik gesprochen hatte – sie bildete sich fälschlicherweise ein, das sei näher –, lief sie zurück in Håkons Büro. Er war schroff und abweisend und damit beschäftigt, etwas zusammenzubauen, das solide wirkte. Das war nicht leicht, bei dem drittklassigen und fehlerhaften Material, das ihm zur Verfügung stand.
Dieser verdammte Stiefelmann! Håkon wäre gern in den Arrest gerannt, um dem Typen hunderttausend Kronen anzubieten, damit er den Mund aufmachte. Wenn das nichts half, konnte er ihn auch zusammenschlagen. Oder vielleicht umbringen. Aus purer Wut. Andererseits hatten Frøstrup und van der Kerch ihren Fahrschein ins Jenseits gekauft und bezahlt, und – wer konnte das wissen? – vielleicht hatte die Polizei bald einen dritten Selbstmord am Hals. Gott behüte. Außerdem mußte der Bursche im Laufe des Tages entlassen werden. Sie würden das so lange wie möglich hinauszögern.
Nach einer Stunde konnte er nichts mehr tun. Die Sekretärin brauchte zwölf Minuten, um sein Diktat zu Papier zu bringen. Er las den Text, und sein Mißmut steigerte sich bei jeder Zeile. Die Sekretärin sah ihn mitleidig an, sagte aber nichts. Und das war sicher besser so.
»Karen ist nicht in der Hütte.« Hanne Wilhelmsen stand in der Tür. »Das Auto steht vor der Tür, und in der Küche brennt Licht. Aber sie sehen weder den Hund noch irgendeinen Menschen. Sie ist sicher spazierengegangen.«
Spazierengegangen. Seine geliebte Karen, sein Strohhalm, seine einzige Hoffnung. Die Frau, die ihn vor der totalen Erniedrigung bewahren, die die Polizei vor Skandalmeldungen retten und das Land von
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