Blinde Goettin
einem Mörder und Drogenbanditen befreien konnte. Sie ging spazieren. In diesem Moment schlenderte sie über Ulas Strände, warf das Stöckchen für den Hund und atmete die frische Seeluft ein, viele Meilen und hundert Lichtjahre entfernt von dem stickigen und unbehaglichen Büro im Polizeigebäude, dessen Wände sich jetzt zu bewegen begannen; sie kamen auf ihn zu und drohten ihn zu ersticken. Er sah sie vor sich, in dem alten gelben Regenmantel, mit nassen Haaren und ungeschminktem Gesicht, so, wie sie an Regentagen in der Hütte immer aussah. Spazieren. Eine verdammte Scheißtour im Pißregen.
»Dann müssen sie eben auch einen Ausflug machen, die Polizisten da unten. Die Gegend ist doch nicht so verdammt groß!« Es war ungerecht, seinen Frust an Hanne auszulassen, er bereute sofort. Ein blasses Lächeln und eine hilflose Kopfbewegung sollten seinen hitzigen Ausbruch mildern.
Hanne sagte leise, sie habe die Kollegen schon darum gebeten. Sie hatten noch Zeit und konnten noch hoffen. Ein Blick auf die Uhr zwang sie zu der Frage, ob er wegen der Verspätung Bescheid gesagt habe.
»Ich habe um Aufschub bis drei Uhr gebeten. Bis zwei haben sie erlaubt. Wir haben noch eine Stunde. Ich kriege sicher mehr, wenn ich versprechen kann, daß sie kommt. Wenn nicht, geht es um zwei los.«
Weit, weit von ihm entfernt ging eine gelbe Gestalt am wilden Wintermeer entlang und fütterte es mit Steinen. Der Boxer stürzte sich ins unruhige Wasser und fror wie ein Hund. Aber er ließ nicht locker, sein Instinkt zwang ihn, jeden geworfenen Gegenstand zu verfolgen. Der Hund war noch nie erkältet gewesen, aber jetzt zitterte er heftig. Karen Borg blieb stehen und zog einen alten Pullover aus dem Rucksack, um den Hund den Temperaturen entsprechend anzuziehen. Er sah lächerlich aus in dem rosa Mohairpullover, der sich an den Vorderbeinen hochschob und unter dem mageren Körper schlotterte. Aber der Hund hörte immerhin auf zu zittern.
Jetzt hatte sie die Spitze der Landzunge erreicht und suchte nach einem behaglichen, windgeschützten Winkel, in dem sie an Tagen wie diesem schon oft Zuflucht gesucht hatte. Da war die Stelle. Karen setzte sich auf eine mitgebrachte Isoporunterlage und zog eine Thermosflasche hervor. Der Kakao schmeckte deutlich nach dem Kaffee vieler Jahre, aber das machte nichts. Sie blieb lange sitzen, tief in Gedanken versunken, und lauschte dem lärmenden Meer und dem pfeifenden Wind. Der Boxer hatte sich zu ihren Füßen zusammengerollt und sah aus wie ein rosa Pudel. Aus irgendeinem Grunde war sie unruhig. Sie machte hier draußen Jagd auf die Ruhe, aber die war verschwunden. Seltsam, gerade hier hatte die Ruhe sich immer auf ein Rendezvous eingelassen. Vielleicht traf sie sich lieber mit anderen. Was für ein Verrat.
Die Polizei fand Karen Borg nicht. Sie kam an diesem Tag nicht nach Oslo. Sie wußte nicht einmal, daß sie dort gebraucht wurde.
Es mußte schiefgehen. Sie hatten dem Gericht nicht den geringsten neuen Fund zu bieten. Diesmal brauchte Christian Bloch-Hansen zwanzig Minuten, um das Gericht davon zu überzeugen, daß eine Fortdauer des Haftbefehls einen klaren und unverhältnismäßigen Übergriff bedeuten würde. Anwalt Laviks Arbeit litt natürlich sehr unter seiner Haft. Er verlor pro Woche Dreißigtausend. Und nicht nur er hatte darunter zu leiden, er hatte zwei Angestellte, deren Arbeitsplätze durch seine Abwesenheit bedroht waren. Seine Stellung und sein gesellschaftlicher Rang wurden gefährdet, und der gewaltige Eifer der Presse machte die Lage auch nicht gerade besser. Wenn das Gericht wider alle Vermutungen noch immer der Ansicht sein sollte, der Verdacht gegen Lavik könne stichhaltig sein, dann mußte es auf jeden Fall die enorme Belastung beachten, die die Haft bedeutete. Innerhalb einer Woche hätte es der Polizei gelungen sein müssen, weiteres Material zusammenzutragen. Das hatte sie jedoch nicht geschafft. Der Anwalt mußte auf freien Fuß gesetzt werden. Und zwar ehe nicht wiedergutzumachender Schaden entstanden war. Auch seine Gesundheit stand auf dem Spiel. Das Gericht sah schließlich, wie es um ihn stand. Das sah das Gericht. Wenn er beim letztenmal schon kläglich ausgesehen hatte, dann war es jetzt keinen Deut besser. Es war kein Arzt nötig, um festzustellen, daß dieser Mann arg mitgenommen war. Seine Kleider waren zusammen mit ihrem Besitzer verfallen, und der einst so stattliche junge Anwalt sah aus, als sei er nach einer ausgeuferten Weihnachtsfeier aus der
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