Blinde Goettin
die Wärter hatten Pillen bekommen, die sie ihm nach Anweisung des Arztes mit lauwarmem Wasser in einem Plastikbecher verabreichten. Abends winzige hellblaue Pillen, die ihm auf den Zug ins Traumland halfen. Dreimal täglich waren die Pillen groß und weiß. Sie brachten ihm eine Art Atempause, in der der Kaktus für kurze Frist seine Stacheln einzog. Aber die Gewißheit, daß sie bald wieder zum Vorschein kommen würden, frisch gewetzt und gewachsen, war fast genauso schlimm. Han van der Kerch verlor sein Dasein langsam aus dem Griff.
Er glaubte, es sei Tag. Er war sich nicht sicher, aber es brannte Licht, und er hörte viele Geräusche. Soeben war eine Mahlzeit serviert worden, er wußte nicht, ob das das Mittag- oder das Abendessen sein sollte. Vielleicht das Abendessen? Nein, es war zu früh, zuviel Krach.
Zuerst begriff er nicht, was es war. Als das Zettelchen durch das Gitter fiel, dachte er noch lange nicht darüber nach. Er beobachtete es, es war leicht und klein und brauchte eine Ewigkeit, um den Boden zu erreichen. Es flatterte wie ein Schmetterling, hin und her, und näherte sich langsam dem Beton. Er lächelte, das Geflattere sah lustig aus, und er hatte nicht das Gefühl, daß ihn das etwas anginge.
Da lag es. Han van der Kerch ließ es liegen und hob den Blick, um wieder die Schatten an der Wand zu beobachten, die verrieten, was auf dem Flur geschah. Er hatte eben eine weiße Pille bekommen und fühlte sich besser als vor einer Stunde. Nach einer Weile versuchte er aufzustehen. Ihm war schwindelig, und er hatte so lange in derselben Stellung dagelegen, daß ihm Arme und Beine eingeschlafen waren. Es prickelte arg, und sehr steif legte er die wenigen Schritte zur Tür zurück. Er bückte sich und hob den Zettel auf, ohne ihn anzusehen. Er brauchte mehrere Minuten, um sich so hinzusetzen, daß seine Glieder sich nicht allzusehr beklagten.
Der Zettel war von Postkartengröße, zweimal gefaltet. Er breitete ihn auf seinem Oberschenkel aus. Die Nachricht betraf offenbar ihn. Mit breitem Filzstift waren wenige Wörter in Blockbuchstaben geschrieben: »SCHWEIGEN IST GOLD, REDEN DER TOD.« Das war ziemlich melodramatisch, und er prustete los. Er lachte schrill und so laut, daß er zusammenfuhr und verstummte. Gleich darauf überwältigte ihn die Angst. Wenn ein Zettel den Weg durch die Gittertür fand, dann war das auch einer Kugel möglich.
Wieder lachte er, genauso laut und schrill wie vorhin. Das Lachen hallte zwischen den Mauern wider, wurde hin- und hergeworfen, umtanzte seinen Urheber und verschwand dann durch die Gitterstäbe – zusammen mit dem letzten Rest Vernunft aus dem Kopf des Niederländers.
FREITAG, 16. OKTOBER
»Zwei Tote und zwei Leute im Krankenhaus. Und alles, was wir haben, sind Initialen und vage Vermutungen.«
Das gelbe Ahornlaub hatte seine erste Frostnacht hinter sich, und es hörte sich an, als wanderten sie durch knisternde neue Geldscheine. Hier und dort lag etwas Neuschnee, der erste. Sie standen oben auf St. Hanshaugen, und die Stadt lag herbstlich und verfroren vor ihnen. Sie schien von der plötzlichen Kälte ebenso überrascht zu sein wie die Autofahrer im Geitemyrsvei, die auf blockierten Sommerreifen kollidierten. Der Himmel hing tief. Nur die Kirchtürme, der hohe von Uranienborg und zwei kleinere näher an St. Hanshaugen, hinderten ihn am Absturz.
Hanne Wilhelmsen war aus dem Krankenhaus entlassen, aber noch kaum imstande zu Waldwanderungen. Sie hätte ihr gemartertes Gehirn auch nicht mit Problemen belasten dürfen, aber Håkon Sand hatte der Versuchung nicht widerstehen können, als sie anrief und einen Waldspaziergang vorschlug. Noch immer war sie bleich und deutlich zerschlagen. Ihre Kieferpartie hatte sich von blau zu grün verfärbt, und die riesigen Verbände waren durch große Pflaster ersetzt worden. Ihre Haare waren absolut asymmetrisch, und das überraschte ihn. Er hatte angenommen, sie würde sie schneiden lassen, um ihren ganzen Kopf in Harmonie mit dem rasierten Teil zu bringen, einem großen Bereich über dem einen Ohr. Als sie sich trafen, mit verlegener Wiedersehensfreude und verlegenem Lächeln, hatte sie sofort erklärt, daß sie den Rest ihrer langen Haare nicht auch noch opfern wolle. Obwohl sie unleugbar seltsam aussah.
»Einer im Krankenhaus«, korrigierte sie. »Ich bin doch wieder auf den Beinen.«
»Ja, darin hast du mehr Glück als unser niederländischer Freund. Der Bursche ist total ausgerastet. Retroaktive Psychose, sagt der Arzt,
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