Blinde Goettin
seiner Zelle lag ein zigarrenförmiges Etui. Niemand suchte danach, und es blieb in Wind und Wetter liegen, bis anderthalb Jahre später ein Wärter es auflas.
Die alte Mutter des Mannes wurde zwei Tage später von seinem Tod unterrichtet. Sie weinte bitterlich und trank zum Trost eine ganze Flasche Eau de Vie. Sie hatte getrauert, als der Junge ungewünscht das Licht der Welt erblickt hatte, sie hatte sich durch sein Leben geweint. Jetzt betrauerte sie seinen Fortgang. Außer ihr würde niemand, absolut niemand Jacob Frøstrup vermissen.
Bei ihrer letzten Begegnung hatte der ältere Mann bedrohlich gewirkt, jetzt aber war er bis zur Unkenntlichkeit von Wut entstellt. Die beiden Männer hatten sich auf einem Parkplatz tief in Maridalen getroffen. Sie hatten ihre respektablen Wagen auf entgegengesetzten Seiten des Platzes abgestellt, was aufgesetzt wirkte, da weit und breit nur drei weitere Autos standen, brav nebeneinander. Sie hatten sich getrennt in den Wald begeben, der Ältere in Sportbekleidung wie beim letztenmal, der Jüngere frierend, in Anzug und schwarzen Schuhen.
»Wieso, zum Teufel, kreuzt du hier in dieser Verkleidung auf?« fauchte der Ältere, als sie einige hundert Meter hinter der Baumgrenze zusammenstießen. »Willst du Aufmerksamkeit erregen oder was?«
»Reg dich ab, niemand hat mich gesehen.« Er klapperte mit den Zähnen. Seine dunklen Haare waren schon naß, und der Regen hatte seine Schultern schwarz gefärbt. Er hatte Ähnlichkeit mit Dracula, und seine spitzen Eckzähne verstärkten diesen Eindruck; selbst bei geschlossenem Mund waren sie noch zu sehen. Seine Lippen zogen sich in der Kälte zusammen.
Nicht weit entfernt hörten sie einen Traktor brummen. Rasch suchten sie hinter zwei Baumstämmen Schutz, eine absolut unnötige Sicherheitsmaßnahme; sie waren mindestens hundert Meter vom Weg entfernt. Das Motorengebrumm ebbte ab.
»Wir haben die klare Richtlinie, uns nie zu treffen«, kläffte der Wütende weiter. »Jetzt habe ich dich innerhalb kurzer Zeit zweimal treffen müssen. Sind dir die Dinge total aus dem Ruder gelaufen?«
Diese Frage war überflüssig. Der nasse Mann schien völlig außer sich zu sein. Sein erbärmliches und verwirrtes Aussehen bildete einen herben Kontrast zu dem teuren Anzug und der modegerechten Frisur. Beide gingen gerade in Auflösung über. Er gab keine Antwort.
»Reiß dich zusammen, Mann!« Er verlor die Beherrschung und packte den Jüngeren am Revers. Er schüttelte ihn, und der Mann leistete keinerlei Widerstand. Sein Kopf wurde wie der einer Flickenpuppe hin- und hergeworfen. »Hör zu, hör mir doch zu!« Der Ältere wechselte seine Taktik. Er ließ sein Gegenüber los und redete langsam und betont, wie mit einem kleinen Kind. »Wir hören auf. Wir pfeifen auf die drei Monate, von denen ich gesprochen habe. Wir packen zusammen. Hörst du? Aber du mußt mir sagen, woran wir sind. Weiß dein Knastbruder etwas über uns?«
»Ja. Über mich. Über dich natürlich nicht.«
Der pädagogische Tonfall war verschwunden, der Ältere schrie geradezu: »Warum, zum Teufel, hast du mir erzählt, du seist nicht so bescheuert gewesen wie Hansa? Du hast gesagt, du hättest keinen Kontakt zu den Laufburschen!«
»Ich habe gelogen«, antwortete der andere apathisch. »Wie, zum Teufel, sollte ich sie denn sonst rekrutieren? Ich habe sie im Gefängnis mit Stoff versorgt. Nicht viel, aber genug, um sie in der Hand zu haben. Die rennen dem Stoff nach wie die Köter läufigen Hündinnen.«
Der Ältere hob die Hand zum Schlag, so langsam jedoch, daß es nicht überraschend kam. Der Jüngere trat voller Angst einen Schritt zurück, rutschte im nassen Laub aus und kippte rückwärts um. Er stand nicht wieder auf. Voller Verachtung stieß der andere seine Beine mit dem Fuß an.
»Das bringst du in Ordnung!« befahl er.
»Schon geschehen«, piepste es aus dem verfaulenden Laub. »Das ist ja schon geschehen!«
FREITAG, 23. OKTOBER
Er fühlte sich nicht einsam, aber vielleicht ein bißchen allein. Die Frauenstimme der Radionachrichten, hart und gewöhnlich, war als Gesellschaft in Ordnung. Den Sessel hatte er von seiner Großmutter geerbt. Er war bequem, deshalb hatte er ihn übernommen, obwohl der Großmutter just in diesem Sessel der Erlöser begegnet war. Noch immer zierten zwei Blutflecken die eine Armlehne; vermutlich war die alte Frau nach ihrem Herzversagen mit dem Kopf gegen das Bücherregal geprallt. Die Flecken ließen sich einfach nicht entfernen, es
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