Blinde Goettin
war, als wollte die Großmutter aus ihrem Dasein im Jenseits halsstarrig ihr Eigentumsrecht geltend machen. Håkon Sand fand es gut so. Die Großmutter war ihr Leben lang ein zähes Biest gewesen, und die bleichen Blutreste auf dem hellblauen Veloursbezug erinnerten ihn an die tolle Frau, die ganz allein den Krieg gewonnen und sich um alle Schwachen und Hilflosen gekümmert hatte, die Heldin seiner Kindheit, die ihn zum Jurastudium überredet hatte, obwohl ihm das Lernen alles andere als leichtgefallen war.
Die Wohnung war geschmacklos eingerichtet, ohne Konsequenz oder auch nur den Versuch, einen einheitlichen Stil zu erreichen. Die Farben bissen sich, und trotzdem prägten Freundlichkeit und Gemütlichkeit die kleinen Räume. Jeder Gegenstand hatte seine Geschichte; manches waren Erbstücke, anderes auf dem Flohmarkt gekauft, Wohn- und Eßzimmer hatte Ikea beigesteuert. Eine Männerwohnung, aber sauberer und ordentlicher; Håkon Sand hatte als einziger Sohn einer Putzfrau sein Handwerk früh gelernt. Hausarbeit machte ihm Spaß.
Der Generalstaatsanwalt empörte sich darüber, wie die Presse über Strafprozesse berichtete. Die Moderatorin konnte die Debattierenden nur mit Mühe im Zaum halten, und Håkon Sand hörte mit geschlossenen Augen und mäßigem Interesse zu. Die Presse läßt sich ja doch keine Vorschriften machen, dachte er und war kurz davor einzuschlafen, als das Telefon klingelte. Es war Karen Borg. Er nahm das Echo seines eigenen Ohrensausens im Hörer wahr und versuchte mehrmals zu schlucken. Das half nichts. Sein Mund war ausgedörrt wie nach einem Zechgelage.
Sie meldete sich, er meldete sich, und dann kamen sie nicht weiter. Es war peinlich, stumm an einem lautlosen Telefon zu sitzen, und er räusperte sich hektisch, um das Vakuum auszufüllen.
»Ich bin allein hier«, sagte Karen endlich. »Könntest du vielleicht mal rüberkommen? Ich hab’ ein bißchen Angst«, fügte sie hinzu, um ihren Wunsch nach Gesellschaft zu legitimieren.
»Und Nils?«
»Seminar. Ich kann uns was Gutes kochen. Und ich habe Wein da. Wir können über den Fall reden. Wie in alten Zeiten.«
Er hätte mit ihr über jegliches Thema gesprochen. Er war hingerissen, glücklich, erwartungsvoll und voller Todesangst. Nach einer langen Dusche und einer Taxifahrt von zwanzig Minuten erreichte er Grünerløkka und eine Wohnung, wie er noch keine gesehen hatte.
Die flatternden Nachtschwärmer unter seinem Hemd begaben sich rasch und enttäuscht zur Ruhe. Karen war nicht sonderlich entgegenkommend; sie umarmte ihn nicht einmal zur Begrüßung, sondern gönnte ihm nur eines der kurzen Lächeln, von denen sie viel zu viele hatte. Bald fielen sie in einen ruhigen Gesprächsrhythmus, und sein Puls beruhigte sich. Håkon Sand war an Enttäuschungen gewöhnt. Das Essen war nicht besonders gut. Er hätte es viel besser machen können. Die Lammkoteletts waren zu lange angebraten worden, sie waren zäh. Er kannte das Rezept und wußte, daß die Soße Weißwein enthielt. Karen Borg aber hatte zuviel Wein genommen, er dominierte den Geschmack. Aber der Rotwein in den Gläsern war edel. Sie redeten viel zu lange über Wind und Wetter und alte Kommilitonen. Beide waren auf der Hut. Ihr Gespräch floß leicht dahin, folgte aber streng einer schmalen Spur. Karen legte die Richtung fest.
»Seid ihr eigentlich schon weitergekommen?«
Sie hatten gegessen. Der Nachtisch war ziemlich mißraten, ein Zitronensorbet, das um keinen Preis länger als dreißig Sekunden steif bleiben mochte. Håkon hatte das überspielt und die kalte Zitronensuppe mit einem Lächeln und scheinbar gutem Appetit verzehrt.
»Wir glauben ja, eine Menge zu wissen, aber wir sind Lichtjahre von irgendeinem Beweis entfernt. Jetzt langweilen wir uns. Haufenweis’ Routinescheiß. Wir sammeln alles, was unter Umständen wertvoll sein könnte, und versuchen händeringend herauszufinden, ob irgendwas verwertbar ist. Vorläufig haben wir nichts über Jørgen Lavik, aber wir rechnen damit, in einigen Tagen einen besseren Überblick über sein Leben zu haben.« Karen unterbrach ihn, indem sie ihr Glas zu einem Prost hob. Er nahm einen zu großen Schluck und mußte husten. Der Rotwein bildete auf der Tischdecke Flecken, und verzweifelt packte er den Salzstreuer, um seine Blamage zu verdecken. Sie nahm seine Hand, sah ihm in die Augen und beruhigte ihn.
»Keine Panik, Håkon. Das mache ich morgen. Erzähl lieber weiter.«
Er stellte den Salzstreuer beiseite und entschuldigte sich
Weitere Kostenlose Bücher