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Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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mittleren Alters verfügte nach dreißig Minuten über genügend Informationen. Danach besprach er sich unter vier Augen zwei Stunden lang mit seinem Mandanten. Schließlich bat er, Laviks Verhör auf den nächsten Tag zu verschieben.
    »Mein Mandant ist erschöpft. Ihr sicher auch. Und ich selbst hatte ebenfalls einen langen Tag. Wann möchtet ihr morgen anfangen?«
    Überwältigt von Bloch-Hansens höflichem Auftreten, überließ Hanne dem Anwalt die Wahl des Zeitpunktes.
    »Ist zehn Uhr zu spät?« fragte er lächelnd. »Ich lasse mir am Wochenende gern Zeit fürs Frühstück.«
    Für Hanne Wilhelmsen war es weder zu früh noch zu spät. Das Verhör sollte um zehn Uhr beginnen.

SAMSTAG, 21. NOVEMBER
    Was für ein Höllenlärm! Zuerst begriff er nicht, was es war, er drehte sich um und starrte verwirrt den Wecker an. Es war ein altmodischer mechanischer, mit einem Uhrwerk, das ticktack sagte, einem Zifferblatt mit normalen Zahlen und einem Schlüssel auf der Rückseite, der ihn an die Rollschuhe seiner Kindheit erinnerte. Der Wecker mußte jeden Abend aufgezogen werden, sonst blieb er gegen vier Uhr stehen. Es war zehn vor sieben, und er schlug gegen die große Glocke oben auf dem Wecker. Es half nichts. Er faßte sich langsam, setzte sich im Bett auf und begriff endlich, daß das Telefon klingelte. Er tastete nach dem Hörer und warf den ganzen Apparat mit einem Krachen zu Boden. Endlich erwischte er ihn wieder und murmelte seinen Namen. »Håkon Sand. Wer ist da?«
    »Hallo. Sand! Hier ist Myhreng. Tut mir leid, daß ich …«
    » Leid? Wieso, zum Teufel, rufst du mich an einem Samstagmorgen um sieben Uhr, nein, vor sieben Uhr an? Für wen hältst du dich eigentlich?«
    Peng. Es reichte nicht, den Hörer aufzulegen, er sprang wütend auf und zog den Stecker aus der Dose. Dann ließ er sich ins Bett fallen und schlief tief und fest weiter. Er schlief anderthalb Stunden. Dann schellte es wütend an der Tür.
    Halb neun war ein guter Zeitpunkt zum Wachwerden. Dennoch ließ er sich Zeit, in der Hoffnung, daß, wer auch immer da vor der Tür stand, inzwischen die Geduld verlieren würde. Als er sich die Zähne putzte, schellte es wieder. Noch wütender. Håkon nahm sich Zeit, sich das Gesicht zu waschen, und er fühlte sich wunderbar frei, als er seinen Bademantel anzog und Wasser aufsetzte, ehe er sich zur Gegensprechanlage begab.
    »Ja?«
    »Hallöchen, hier ist Myhreng, du. Kann ich raufkommen?«
    Der Knabe ließ also nicht locker. Das tat aber auch Håkon Sand nicht. »Nein«, sagte er und hängte den Hörer wieder hin. Das half ihm nichts. In der nächsten Sekunde dröhnte das unangenehme Geräusch wie eine durchgedrehte Riesenwespe durch die Wohnung. Håkon dachte einige Sekunden nach, dann betätigte er erneut die Sprechanlage.
    »Geh in den Laden an der Ecke und kauf Brötchen. Und Saft. Solchen mit Fruchtfleisch. Und die Zeitungen. Alle drei.«
    Da er sich nicht präzise ausgedrückt hatte, kaufte Myhreng nicht die drei Zeitungen, die Håkon gemeint hatte. Und das mit dem Fruchtfleisch vergaß er auch.
    »Verdammt schöne Wohnung«, erklärte Myhreng und warf einen langen Blick ins Schlafzimmer.
    Neugierig wie ein Polizist, dachte Håkon und schloß die Tür. Er bat Myhreng ins Wohnzimmer, ging ins Bad und stellte eine zusätzliche Zahnbürste und eine sehr feminine Parfümflasche, die eine Bekannte vor einem Jahr vergessen hatte, vor den Spiegel. Besser, nicht allzu armselig zu wirken.
    Fredrick Myhreng wollte nicht plaudern. Der Kaffee war noch nicht fertig, als er auch schon loslegte. »Habt ihr ihn eingebuchtet, oder was? Der ist nirgendwo zu finden. Seine Sekretärin erzählt mir was von Auslandsreise, und bei ihm zu Hause sagt so ein Knirps nur, daß Papa nicht ans Telefon kommen kann. Und Mama auch nicht. Ich hab’ schon überlegt, ob ich das Jugendamt anrufen soll, als ich bei sechs Versuchen immer bloß diesen Fünfjährigen an der Strippe hatte.«
    Håkon schüttelte den Kopf, holte den Kaffee und setzte sich.
    »Bist du ein Kindesmißhandler? Wenn du auf den Gedanken gekommen bist, daß wir Lavik haben, muß dir doch klar sein, daß dein Telefonterror weder für den Kleinen noch für die restliche Familie besonders lustig ist!«
    »Journalisten können keine kleinlichen Rücksichten nehmen«, erklärte Myhreng und machte sich über eine ungeöffnete Dose Makrelen in Tomate her.
    »Ja, mach sie ruhig auf«, sagte Håkon sauer, als der halbe Doseninhalt auf Myhrengs Brötchen verteilt

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