Blinde Goettin
Gang. Håkon Sand erhielt das Wort, und Hanne stupste aufmunternd seinen Oberschenkel an, als er sich erhob. Der Stups fiel härter aus als geplant, und vor lauter Schmerz hätte er fast losgepißt.
Vier Stunden später waren Staatsanwalt und Verteidiger dem Beispiel des Richters gefolgt und hatten ihre Jacken abgelegt. Hanne Wilhelmsen hatte ihren Pullover ausgezogen, nur Lavik schien zu frieren. Die Computerfrau dagegen sah restlos ungerührt aus. Sie hatten vor einer Stunde eine kleine Pause eingelegt, aber niemand im Saal war das Risiko eingegangen, sich bei den Wölfen im Korridor sehen zu lassen. Wenn es im Saal still wurde, konnten sie hören, daß draußen immer noch das wilde Gedränge herrschte.
Lavik sagte bereitwillig aus, nur brauchte er dafür elend lange. Jedes Wort wurde auf die Goldwaage gelegt. Die Geschichte des Anwalts enthielt nichts Neues. Er stritt alles ab und hielt sich an seine Aussage. Auch für die Fingerabdrücke hatte er eine Art Erklärung. Sein Mandant habe ihn ganz einfach um einen kleinen Kredit gebeten, was nicht ungewöhnlich sei, wie Lavik behauptete. Auf Håkons säuerliche Frage, ob er an alle seine finanzschwachen Mandanten Geld verleihe, antwortete er mit Ja. Dafür konnte er Zeugen bringen. Lavik konnte natürlich nicht erklären, warum ein ehrlich erworbener Tausender zusammen mit Drogengeld in einer Plastiktüte unter einem Dielenbrett im Mossevei lag, aber ihm konnte man ja wohl keine Vorwürfe machen, wenn sein Mandant sich seltsam verhielt. Seine Beziehung zu Roger hatte er früher schon klargestellt. Er hatte diesem Burschen manchmal mit Kleinigkeiten geholfen, bei der Steuererklärung und drei, vier Verkehrsgeschichten. Håkon Sands Problem war, daß Roger genau dasselbe behauptete. Was Lavik über den Tausender sagte, war jedenfalls dünn. Obwohl es unmöglich war, im Gesicht des kleinen, untersetzten Richters irgend etwas zu lesen, war Håkon sicher, daß dieser Pfosten seiner Anklage halten würde. Ob das reichte, würde sich in einigen Stunden zeigen. Jetzt mußten sie es darauf ankommen lassen. Håkon eröffnete seine Argumentation.
Geld und Fingerabdrücke waren das wichtigste. Danach ging er auf die seltsame Verbindung zwischen Roger und Lavik und die kodierten Telefonnummern ein. Schließlich brauchte er fünfundzwanzig Minuten für Han van der Kerchs Aussage Karen Borg gegenüber, ehe er mit einer düsteren Tirade über Beweisvernichtung und Fluchtgefahr endete. Das war alles, was er hatte. Schluß, aus. Kein Wort über die Verbindungslinien zu Hans A. Olsen und dem verstorbenen und gesichtslosen Ludvig Sandersen. Nichts über die Codebögen. Absolut nichts über Laviks Anwesenheit zum Zeitpunkt von van der Kerchs Sprung in die Psychose und Frøstrups tödlicher Überdosis.
Gestern war er so sicher gewesen. Sie hatten besprochen und diskutiert, gestritten und argumentiert. Kaldbakken hatte alles auffahren wollen, was sie hatten, und sich auf Håkons absolute Sicherheit von vor wenigen Tagen berufen. Schließlich hatte der Hauptkommissar dann doch nachgegeben. Håkon hatte selbstsicher und überzeugend gewirkt. Das war er jetzt nicht mehr. Er suchte nach dem schlagkräftigen Schlußargument, das er nachts eingeübt hatte, aber es hatte sich irgendwo versteckt. Statt dessen blieb er stecken und schluckte zweimal, ehe er aus sich herauspreßte, daß die Polizei auf weiterer Haft bestehe. Er vergaß, sich zu setzen, und peinliches Schweigen folgte. Für einige Sekunden, bis der Richter sich räusperte und erklärte, Håkon brauche nicht mehr zu stehen. Hanne lächelte schwach, aber aufmunternd und versetzte ihm einen Rippenstoß, diesmal vorsichtiger.
»Geehrtes Untersuchungsgericht«, begann der Verteidiger, noch ehe er ganz aufgestanden war. »Wir haben es hier zweifellos mit einem sehr delikaten Fall zu tun. Wir haben es mit einem Menschen zu tun, der sich eines groben Dienstvergehens schuldig gemacht hat.«
Die anderen fuhren zusammen. Was um alles in der Welt sollte das? Wollte der Anwalt Bloch-Hansen seinem Mandanten in den Rücken fallen? Sie sahen Lavik an, neugierig auf seine Reaktion, aber in seinem müden, grauen Gesicht regte sich nichts. »Es ist eine gute Lebensregel, keine stärkeren Worte zu benutzen, als man heil über den Winter kriegt«, fuhr der Anwalt fort und zog seine Jacke wieder an, wie um eine förmliche Haltung anzunehmen, die in dem großen, überhitzten Saal bisher gefehlt hatte.
Håkon Sand bedauerte, das nicht auch getan
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