Blinde Seele: Thriller (German Edition)
Nachrichten.
»Müssen Sie jemanden anrufen, Mrs. Becket?«, fragte Thomas.
»Meinen Mann«, sagte Grace. »In Florida.«
Er warf einen Blick auf die Uhr. »In Florida ist es sechs Stunden früher als hier in Zürich, nicht wahr?«
Sie nickte. »Ja. Sam ist noch bei der Arbeit.«
»Darf ich fragen, was er macht?«
»Er ist Detective.«
»Hört sich aufregend an.«
Grace sah Interesse in seinen Augen aufflackern.
»Manchmal ist der Job sogar zu aufregend«, sagte sie.
»Und Sie? Sie haben gesagt, Sie sind zu einer Konferenz hier.«
»Ja. Ich bin Psychologin.«
»Eine Psychologin und ein Detective. Ein beeindruckendes Paar«, bemerkte Thomas.
»Und was machen Sie?«, erkundigte sich Grace.
»Ich bin Fotograf.«
»Und was fotografieren Sie?«
»Alles Mögliche. Ich knipse zum Zeitvertreib und um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Irgendwann möchte ich als Fotojournalist arbeiten.«
»Das ist bestimmt ein interessanter Job.«
»Ich würde jetzt gern ein Foto machen«, sagte Chauvin. »Von Ihnen.«
Grace lächelte. »Lieber nicht.« Sie sah sich um. Das Restaurant war voll, die Gäste jeden Alters, der Lärmpegel ziemlich hoch.
»Schade«, sagte Chauvin. »Dann hoffe ich, dass wir uns irgendwann noch einmal über den Weg laufen. Die Welt ist klein, wie man so schön sagt.«
»Erstaunlich klein, wenn ich an unsere drei zufälligen Begegnungen denke«, bemerkte Grace.
»Ja.« Chauvin nickte. »Ich bin kein Mathematiker, aber die Wahrscheinlichkeit dreier zufälliger Begegnungen in weniger als ebenso vielen Tagen ist extrem gering.« Er hielt einen Augenblick inne. »Glückliche Begegnungen für mich, vor allem die letzte.«
Grace ging darüber hinweg, machte stattdessen eine Bemerkung zu seinem fließenden Englisch. Chauvin erzählte, seine Großmutter sei in London aufgewachsen und er hätte großen Wert darauf gelegt, gründlich Englisch zu lernen, da es nun mal die vorherrschende Sprache sei.
»Auf jeden Fall in der Welt, in der ich leben will.« Er grinste. »Und ich verbringe zu viel Zeit damit, mir amerikanische und britische Filme anzusehen.«
»Und was führt Sie nach Zürich?«
»Ein Kurzurlaub«, sagte er. »Nur ein paar Tage, um mich hier umzusehen und vielleicht ein paar Ideen zu bekommen. Und ich möchte Leuten zuschauen.« Er lächelte. »Und Sie treffen, dreimal in drei Tagen.«
Für einen Moment fragte sich Grace, ob er den Zwischenfall vor dem Kino absichtlich herbeigeführt hatte. Aber sie erkannte rasch, dass es praktisch unmöglich gewesen wäre, den Augenblick so genau abzupassen – und überhaupt, es war ein anmaßender Gedanke. Und doch wünschte sie sich mit einem Mal, sie wäre nur auf einen schnellen Drink geblieben, denn jetzt hatte sie keine andere Wahl, als mit diesem Mann auf ihr Abendessen zu warten – mit einem Fremden, mit dem sie keine andere Gemeinsamkeit verband als ein paar Sekunden des Schreckens auf der Straße.
Sie war erleichtert, als ihr Essen kam.
»Schmeckt es Ihnen?«, fragte Chauvin nach dem ersten Bissen.
»Es ist köstlich.« Grace wünschte sich, er würde endlich aufhören, sie so fasziniert anzuschauen.
Als hätte er Grace’ Gedanken gelesen, sagte er: »Verzeihen Sie, dass ich Sie so anstarre. Aber mir hat bis jetzt noch nie jemand das Leben gerettet.«
Grace lachte. »Na ja, ich bin nicht unbedingt in ein brennendes Gebäude gerannt.«
»Sie sollten das nicht kleinreden«, sagte er. »Es war sehr tapfer von Ihnen.«
»Es war nichts. Ich habe gar nicht überlegt und bin sofort losgerannt.«
»Das sagen heldenhafte Leute immer.«
»Oh, bitte.« Sie bedauerte ihre Verärgerung, aber seine Übertreibung streute Salz in die Wunden des vergangenen Jahres.
»Verzeihen Sie«, sagte Chauvin. »Ich wollte Sie nicht aus der Fassung bringen.«
»Das haben Sie auch nicht«, sagte sie. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich keine Heldin bin.«
»Darf ich wenigstens sagen, dass Sie tollkühn waren?«
Grace lächelte. »Von mir aus.«
»So etwas ist mir noch nie passiert«, sagte er. »Vor ein, zwei Jahren habe ich mal von einem schrecklichen Unfall mit einer alten Dame und einer Straßenbahn gehört, aber dass ein junger Mann so unbeholfen und dumm ist …«
»Ein Unfall kann jedem passieren.« Grace schaute auf ihr Weinglas, trank dann aber doch keinen Schluck.
»Tollkühn und tapfer«, sagte Chauvin.
Grace sah sich um. »Ob einer der Ober mir wohl ein Taxi rufen kann?«
»Oh«, sagte Chauvin. »Ich habe Sie wütend gemacht, nicht
Weitere Kostenlose Bücher