Blinde Seele: Thriller (German Edition)
deinen Augen hast«, erklärte Magda.
Felicia verlagerte unruhig ihre Sitzhaltung.
»Welche Farbe haben sie?«, fragte Magda.
»Braun«, antwortete Felicia. »Ich will aber nicht über meine Augen reden.«
»Gibt es irgendetwas anderes, worüber du gern reden möchtest?«
»Nein. Ich bin nur hergekommen, damit meine Mutter endlich Ruhe gibt.«
»Deine Mutter will dir helfen, Felicia«, sagte Magda.
»Sagt sie.«
»Bist du denn anderer Meinung?«
»Sie hat Schuldgefühle«, sagte Felicia.
»Warum glaubst du das?«
»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«
»Also gut«, sagte Magda. »Warum sollte deine Mutter Schuldgefühle haben?«
»Weil sie weiß, dass sie der Grund ist, weshalb ich so bin.«
»Dass du wie bist?«
»Wie die Mutter, so die Tochter.«
»Wie genau?«, fragte Magda.
»Wir sind beide verrückt«, sagte Felicia.
23.
Grace war im Kino gewesen.
Nach Ende ihres Arbeitstages hatte sie nur einen Happen zu sich genommen und dabei entdeckt, dass The King’s Speech , der britische Spielfilm und vierfache Oscar-Gewinner, im Corso lief, einem Kino hier in Zürich – mit Untertiteln, nicht synchronisiert. Die Empfangsdame des Hotels hatte ihr erklärt, das Corso befinde sich in der Theaterstraße und sei ein großes, gepflegtes Kino in einem belebten Stadtteil, in der Nähe von Cafés, Restaurants und Bars, mit guten Straßenbahnverbindungen.
Es war seltsam, allein in einem Kino zu sitzen, aber der Film war in jeder Hinsicht so gut, wie Grace gehört hatte – gut genug für sie, um den Wunsch zu hegen, ihn noch einmal mit Sam anzuschauen, wenn er wollte.
Aber jetzt hatte sie doch Hunger bekommen, und sie überlegte soeben, ob sie sich in dieser Gegend ein Restaurant suchen oder gleich zurück zum Hotel gehen sollte, um in der Bar einen Happen zu essen, als sie ihn plötzlich sah.
Ungefähr fünf Sekunden, bevor es passierte.
Es war schon wieder der junge Mann, der in diesem Augenblick ungefähr zwanzig Schritte vor ihr die Straße überquerte, in Jeans und derselben Lederjacke, die er vorhin getragen hatte, und mit Einkaufstüten in den Händen. Während Grace noch über die Wahrscheinlichkeit dieses zweiten Zufalls nachgrübelte, ließ er eine der Tüten fallen, bückte sich, um sie aufzuheben – und stolperte, stürzte auf die Straßenbahngleise.
Eine Straßenbahn raste auf ihn zu.
»Hey!«, rief Grace, selbst halb über der Straße, als ihr klar wurde, dass etwas nicht stimmte, denn der Mann blickte sie benommen an und rührte sich nicht. »Vorsicht!«, schrie sie. »Die Straßenbahn!«
Der Mann stieß einen Schrei des Entsetzens aus und versuchte aufzustehen, doch sein rechtes Bein knickte unter ihm weg.
Grace rannte zu ihm und zog am linken Arm. »Kommen Sie, schnell!«
Sie hörte die Straßenbahn bimmeln, hörte die Bremsen kreischen, sah die Scheinwerfer hoch über ihnen …
Jetzt war der junge Mann endlich auf den Beinen, aber er versuchte noch, sich die Einkaufstüten zu schnappen.
»Liegen lassen!« Grace zog verzweifelt an seinem Arm, und diesmal gab er nach. Grace zerrte den Mann von den Gleisen, während die Straßenbahn nur wenige Meter entfernt kreischend zum Stehen kam.
Grace schaute auf die Einkaufstüten und begriff mit einem Mal, wie knapp sie beide davongekommen waren.
Joshua und Sam schossen ihr durch den Kopf. Vielleicht hätte sie vorsichtiger sein sollen, aber sie wusste, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte.
»Ist alles in Ordnung?«, rief eine Frau.
Grace, aus ihren Gedanken gerissen, hob den Blick. Sie sah, dass Leute sie und den jungen Mann anstarrten. Dann hörte sie eine andere, zornige Stimme. Es war der Straßenbahnfahrer, der sie auf Schweizerdeutsch anbrüllte. Natürlich verstand sie kein Wort, aber es war auch so offensichtlich, dass der arme Mann vor Schreck außer sich war.
»Es tut mir leid«, rief Grace ihm zu.
»Sind Sie verletzt?«, fragte eine andere Frau.
Grace schaute sie an, schüttelte den Kopf und brachte ein Lächeln zustande. Dann wandte sie sich dem jungen Mann zu. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht … Mein Bein hat einfach nachgegeben.« In seinen Augen lag immer noch Entsetzen. »Mein Gott, Sie hätten tot sein können.«
»So schlimm war es nicht«, sagte Grace. »Der Fahrer hat rechtzeitig gebremst.«
»Aber es hätte auch anders kommen können.«
»Wie geht es Ihrem Bein jetzt?«
Der junge Mann versuchte einen Schritt. »Es geht schon wieder.« Er zeigte auf die Schienen. »Aber dort eben …« Er lächelte
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