Blinde Seele: Thriller (German Edition)
widmen. Sam erklärte ihm, Chauvin sei Zeuge einer tödlichen Schießerei gewesen und er müsse sichergehen, dass sie ihn über Nacht dabehielten.
»Der Patient muss operiert werden.« Der Arzt hielt einen Moment inne. »Falls er wach ist, können Sie zu ihm. Ich sehe mal nach.«
»Danke, lassen Sie nur, ich habe leider keine Zeit«, sagte Sam. »Sobald er nach Hause kann, hole ich ihn ab. Sie brauchen ihm nicht zu sagen, dass ich hier war, okay?«
Der Arzt zuckte die Schultern. »Hab’s schon vergessen.«
Auf dem Weg zurück zum Wagen hatte Sam bereits beschlossen, wie er am besten mit Chauvin umgehen würde, um sicher zu sein, dass dieser Mann nie wieder auch nur in die Nähe seiner Familie kam.
Dann war da noch der Dreckskerl, der Mildred Angst eingejagt hatte. Hätte sein Vater ihm nicht gesagt, dass Alvarez und Riley sich um den Burschen kümmerten – Sam hätte sich den Typen persönlich vorgeknöpft.
Aber er, Martinez und Joe Duval – und wer immer noch dazukam – hatten eine Verdächtige zu vernehmen.
Er hatte eine lange Sitzung vor sich.
Er gähnte.
Ein Glück, dass er sich das Kaffeetrinken wieder angewöhnt hatte.
Es war jetzt schon schwer, sich eine Nacht wie diese, die bis zum Morgen dauern würde, ohne Koffein vorzustellen.
133.
Um vier Uhr morgens kam die Vernehmung endlich in Gang.
Toni Petit war zum zweiten Mal über ihre Rechte belehrt worden und hatte, wie schon zuvor, darauf verzichtet.
Duval vergewisserte sich noch einmal.
»Nur damit keine Unklarheiten entstehen, Mrs. Petit. Sie verzichten auf Ihr Recht zu schweigen?«
»Ja.«
»Und auch auf das Recht, nur im Beisein eines Anwalts mit uns zu sprechen?«
»Wenn Sie mir sagen, wen sie mit ›uns‹ meinen.«
»Damit meine ich mich selbst, Special Agent Joseph Duval, die Detectives Becket und Martinez vom Miami Beach Police Department, Detective O’Dea aus Palm Beach sowie Detective Roberta Gutierrez aus Fort Lauderdale.«
Fünf, hatte der stellvertretende Staatsanwalt empfohlen, war die Höchstzahl aufseiten der Ermittler in dieser Nacht, falls sie sich zukünftigen Ärger mit irgendeinem Anwalt ersparen wollten, den Toni Petit sich schließlich vielleicht doch nahm.
»Über das alles bin ich mir im Klaren«, sagte Toni.
Sam beobachtete sie genau.
Vor ein paar Stunden hatte diese Frau ihre Schwester erschossen, die sie ihrer Behauptung zufolge fast zwei Jahrzehnte lang im Alleingang beschützt hatte. Es war in einem Augenblick höchster Dramatik und unter äußerstem Stress geschehen, aber Sam war sich absolut sicher, dass Toni sehr genau gewusst hatte, was sie tat.
Kate Petit hatte ihn, Sam, tot sehen wollen, aber Toni hatte stattdessen Kate erschossen. Und dann hatte sie versucht, die Waffe gegen sich selbst zu richten, hatte in diesem Augenblick sterben wollen.
Als Sam sie jetzt ansah, hatte er das Gefühl, dass sich in diesem Punkt nichts geändert hatte.
Toni hatte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte.
Und daher – vielleicht – keinen Grund zu lügen.
Ihr Gesicht war blass, ihre Augen glanzlos, ihre Miene abwesend, als wäre sie eine weite Strecke gereist und nicht wirklich hier in diesem kahlen Raum mit fünf Polizeibeamten, lauter Fremden.
Zu denen Sam auch sich selbst zählte, auch wenn er geglaubt hatte, Toni seit Jahren zu kennen. Es hatte keine Freundschaft zwischen ihnen bestanden, keine besondere Beziehung, nichts, was ihn von dieser Vernehmung disqualifizierte.
*
Er begann, indem er mit ihr noch einmal – für die anderen Anwesenden und fürs Protokoll – die Tragödien durchging, die sich in Louisiana ereignet hatten, bis hin zu ihrer Flucht nach Florida und ihrer Namensänderung. Kate Petits Finger am Abzug der Remington, als die Waffe losgegangen war und Jake Grand getötet hatte, wofür im Grunde ihres Herzens – und dem ihrer toten Schwester – jedoch Toni selbst verantwortlich war.
»Ich wollte, dass er aufhörte«, sagte Toni.
»Weil er dich so lange geschlagen hatte«, sagte Sam.
Er und die anderen hatten sich vorab darauf verständigt, dass es eher eine Befragung als ein Verhör sein sollte und dass sie es vermutlich mit einer »emotionalen Straftäterin« zu tun hatten, sodass sie freundlich, sogar mitfühlend mit Toni umgehen würden – zumindest zu Anfang.
Emotionale Straftäter neigten eher dazu, zusammenzubrechen.
Diese Frau schien jetzt schon gebrochen.
Und bereit zu reden.
»Kate hat eine Besessenheit entwickelt, nachdem wir nach Hallandale gezogen waren«,
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