Blinde Seele: Thriller (German Edition)
Körperverletzung.
Er hatte die Frau nicht verletzt. Er hatte nichts getan, um ihr absichtlich wehzutun. Und wenn sie nicht so reagiert hätte, wie sie es getan hatte, wenn sie nicht geschrien und ihn weggestoßen hätte, wäre er nie gestolpert und hätte sie nie mit der Hand am Auge getroffen, denn er hätte ihr niemals vorsätzlich Schaden zugefügt.
Nie.
Er war Arzt.
Das Instrument war eines seiner eigenen gewesen, ein Lidspekulum, und die Gelegenheiten, frisch operierte Augen zu untersuchen, waren selten und halfen ihm, seine Kunst zu verbessern. Er hatte geglaubt, dass Mrs. Becket von den Medikamenten so entspannt sein würde, dass er ihr Auge behutsam untersuchen konnte, damit in Zukunft …
Jetzt gab es keine Zukunft mehr.
Sie hatten das Spekulum nicht bei ihm gefunden, da er es mit dem Klinikmüll entsorgt hatte – und das ärgerte ihn, die Vergeudung eines schönen, teuren Instruments. Vielleicht würden sie sogar danach suchen. Aber selbst wenn sie es niemals finden sollten …
Wenn er jetzt bloß lesen könnte, um sich zu beruhigen, um sich mehr wie er selbst zu fühlen, dann wäre er vielleicht besser gewappnet, seine Ängste in den Griff zu bekommen.
Aber so raste die Realität auf ihn zu wie ein Hochgeschwindigkeitszug.
Der Gerichtstermin nahte.
Und mit ihm die Wahrheit.
Denn auch wenn bei der Verhandlung das Wort einer nachgewiesenen Hysterikerin gegen das eines Arztes stehen würde, war George Wiley kein Dummkopf. Selbst wenn die Anklage fallen gelassen wurde, würden diese Leute ihn nicht vergessen lassen, was geschehen war – das hatte er in Dr. Beckets Augen gesehen. Außerdem hatte er heute Abend noch etwas anderes gehört – dass der pensionierte Arzt einen Mordermittler als Sohn hatte, was eine schlechte Neuigkeit sein konnte …
Sie würden gegen ihn ermitteln.
Ihn auseinandernehmen.
Ihn zerstören.
Diese ganze lange Zeit.
Dieses viele Lernen.
Diese Sehnsucht .
Das Streben, der Beste zu sein.
In dem einzigen Beruf, der für ihn zählte.
Arzt.
Sie würden es ihm wegnehmen.
Alles.
Das hatte er auch in Ethan Adams’ Augen gesehen, in diesem kalten, unversöhnlichen Blick.
Kurz bevor dieser großartige Mann ihm den Rücken gekehrt hatte.
Und wenn sie ihn etwas genauer unter die Lupe nahmen – und das würden sie tun, das konnte er so deutlich vor sich sehen wie dieses hässliche Graffit an der Wand –, dann würde alles, wofür er je gelebt hatte, zu nichts zerfallen.
George Wiley schauderte, schloss die Augen und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Er konnte es nicht ertragen.
Konnte nicht ertragen, was man ihm angetan hatte.
Was man ihm noch antun würde.
Sie würden sagen, er hätte seinen Eid gebrochen.
Das konnte er nicht ertragen.
Würde er nicht ertragen.
137.
Während Toni Petit sich auf dem Revier in Gewahrsam befand, fuhr Sam zurück zum Hallandale General Hospital, um noch einmal nach Chauvin zu sehen. Er erfuhr, dass die Operation des Patienten für acht Uhr angesetzt war – ein kleiner Eingriff, nach dem er spätestens am Nachmittag entlassen werden sollte.
Sam verließ das Krankenhaus und machte sich auf den Heimweg. Er verspürte das Bedürfnis, wieder zu Hause anzukommen, sich in Erinnerung zu rufen, dass seine eigene Welt sauber und anständig war.
Aber nicht sicher. Diese Illusion hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben.
Man tat sein Bestes, das verstand sich von selbst, auch wenn es nicht annähernd genug war, sobald es um die eigene Familie ging.
Er befahl seinem Verstand, die Klappe zu halten, ihm eine Pause zu gönnen, ihn duschen und seine Frau sehen zu lassen, ohne sie zu wecken.
Sie hatte fantastische Arbeit geleistet und Felicia Delgado dazu gebracht, die beiden Frauen zu beschreiben. Auch wenn Grace dies lediglich als einen von vielen Schritten im langfristigen Heilungsprozess ihrer Patientin ansehen würde.
Als Sam im Gästebad duschte, um Grace nicht zu wecken, fragte er sich, ob Felicia sich je stark genug fühlen würde, um Fotos zu identifizieren oder sogar gegen Toni Petit auszusagen.
Aber wenn sie mit Petits Geständnis weiterhin so gut vorankamen, mussten sie das dem armen Kind vielleicht gar nicht mehr zumuten.
Sam überlegte, ob er sich eine Stunde aufs Ohr legen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen ging er nach unten und machte sich Toast und eine Tasse Tee. Lausigen Kaffee würde er später, auf dem Revier, noch mehr als genug bekommen.
In gewisser Weise war er froh, dass Grace nicht aufgewacht
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