Blinde Seele: Thriller (German Edition)
dann mit ihr los war.«
»Versuchen Sie es«, sagte Jerry O’Dea.
Toni holte tief Luft. »Die meiste Zeit hatte Kate sich im Griff. Wenn sie wütend wurde, fraß sie es in sich hinein, sodass es sich in ihr aufbaute, bis sie nach Hause kommen und gefahrlos explodieren konnte, ohne dass es jemand mitbekam.«
»Und was ist passiert, wenn sie ›explodiert‹ ist?«, fragte Sam.
»Manchmal hat sie einfach nur geweint und Dinge zerschlagen«, sagte Toni. »Und manchmal ist sie in die Garage gegangen …« Sie sah die Ermittler an. »Sie haben Kates Werkstatt doch gesehen. Werkstatt, so hat sie es genannt.«
»Wir haben sie gesehen«, sagte Detective Gutierrez.
»Oh ja«, sagte Martinez.
»Manchmal ist sie dort hineingegangen, sobald wir nach Hause kamen, und hat sich ein Spielzeug oder eine Puppe genommen – ich habe sie ihr gekauft, weil ich dachte, es sei ein relativ harmloses Ventil für ihre Wut.« Sie hielt einen Moment inne. »Jedenfalls, dann hat Kate sich gern eine von den Puppen genommen und sie bestraft.«
»Und wie?«, fragte Sam leise.
»Sie hat ihnen die Augen ausgestochen«, sagte Toni.
Die Stille im Raum fühlte sich schwer und hässlich an.
»Ich würde dich gern nach den anderen Puppen in Kates Werkstatt fragen«, sagte Sam schließlich.
Toni gab keine Antwort.
»Sind Sie bereit, fortzufahren?«, fragte Duval.
»Du meinst die speziellen Puppen, die wie die Opfer aussahen?«
»Ja«, sagte Sam. »Hast du ihr diese Puppen auch gekauft?«
»Ja.«
»Wann?«, fragte Sam. »In welcher Phase?«
»Ich hatte immer Puppen in Reserve«, sagte Toni. »Puppen unterschiedlichster Art. Für dann, wenn Kate sauer wurde.« Sie hielt einen Moment inne. »Nicht für dann, wenn …«
Sam ging darüber hinweg.
»Was ist mit den Kleidern?«, fragte er. »Für die Doppelgänger, meine ich.«
»Manche habe ich gekauft. Aber meistens habe ich sie selbst genäht.«
»Ein kleiner Nebenjob als Näherin für Sie«, bemerkte Martinez.
»Kate wollte es so«, sagte Toni.
»Aber Sie haben es gern getan«, sagte O’Dea.
»Ich habe es gehasst . Aber ja, ich habe es trotzdem getan, genau wie alles andere, was Kate wollte.«
»Warum?«, fragte Sam. »Wenn du es gehasst hast.«
»Du weißt warum«, sagte sie. »Weil ich in ihrer Schuld stand. Weil ich ihr Leben ruiniert hatte.«
Sie schlug sich unvermittelt die Hände vors Gesicht.
»Was ist?«, fragte Sam.
»Nichts.« Sie ließ die Hände in den Schoß fallen. »Ich bin sehr müde. Es tut mir leid.«
»Möchten Sie eine Pause machen?«, fragte Duval.
»Ja, bitte.«
Sam fragte sich, wie Toni nach einer Pause drauf sein würde, die sie in diesem Raum verbringen musste, ohne dass ihr etwas angeboten wurde, es sei denn, sie wünschte irgendetwas. Er fragte sich, ob sie danach weiterhin mit ihnen reden würde oder ob sie sich auf ihr Recht zu schweigen und ihr Recht auf einen Anwalt berufen würde.
Es war ein Risiko, das sie eingehen mussten.
Es war fast fünf Uhr morgens.
136.
Eines der vielen entsetzlichen Dinge in dieser endlosen Nacht war für Dr. George Wiley, dass er nichts zu lesen hatte.
Graffiti zählten nicht, juristische Formulare ebenso wenig.
Er hatte sich auf seine Rechte berufen, die ihm nach dem Miranda-Gesetz zustanden.
Ausgeschlossen, dass er mit diesen Leuten reden würde wie ein gewöhnlicher Krimineller.
Er war schließlich kein Nobody.
»Ich bin Arzt .«
Das hatte er ihnen immer und immer wieder gesagt, aber sie schienen einfach nicht zu begreifen, was das hieß. Und auch wenn Lieutenant Alvarez ihn mit einem gewissen Maß an Respekt behandelt hatte, war vom ersten Augenblick an offenkundig gewesen, dass er und Beth Riley, seine rothaarige Kollegin, Dr. Becket bereits kannten und deshalb voreingenommen waren.
»Ich habe keinen Anwalt«, hatte er zu ihnen gesagt, da er noch nie einen Rechtsverdreher gebraucht hätte, schon gar keinen Strafverteidiger, und sie hatten ihm gesagt, ihm könne ein Anwalt auch zugewiesen werden; er würde bis zu seinem ersten Gerichtstermin nicht unbedingt einen Rechtsvertreter brauchen, aber das sei seine Entscheidung.
Er würde hier rauskommen. Diese Nacht abgrundtiefer Demütigung würde zu Ende gehen, denn er würde gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden – gegen Hinterlegung einer Sicherheitsleistung, so viel hatte er begriffen. Das war ein ganz neuer Wortschatz, den zu lernen er sich weigerte.
Er, der gelebt hatte, um zu lernen.
Sie redeten von einer Anklage wegen einfacher
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