Blinde Voegel
das sie als Tina Herbert gar nicht wissen konnte. Hoffentlich hatte sich Ehrmann nicht zu intensiv mit ihrem Profil auseinandergesetzt. Wenn doch, wusste er, dass sie sich erst nach Pallaufs Tod bei Facebook angemeldet hatte. «Ich verstehe auch immer noch nicht, wieso Sarah bei so vielen Salzburgern in der Gruppe ausgerechnet mit ihm Kontakt aufgenommen hat.»
Da war er wieder, dieser Blick, als wäre sie eine seiner Schülerinnen, die gerade etwas sehr Dummes gesagt hatte.
«Also, dazu fällt mir mindestens ein guter Grund ein.»
Voller Dankbarkeit dachte Beatrice an das Aufnahmegerät in ihrer Tasche. Ehrmann mochte sie für beschränkt oder eine Lügnerin halten, aber morgen würde Florin ihn befragen, und wenn er auf stur schaltete, würde sie dazustoßen und Erklärungen für all diese Andeutungen einfordern.
«Ja, schon richtig», sagte sie schnell, «auch wenn ich mich an Sarahs Stelle anders verhalten hätte.»
Er fuhr sich mit dem Daumen über die Lippen, mehrmals, ohne Beatrice aus den Augen zu lassen. «Tina», sagte er schließlich und zog dabei die Vokale in die Länge, als wäre ihr Klang ihm fremd. «Weißt du, wie ich mich fühle? Wie jemand, der eine Blinde durch ein Labyrinth führt.»
Dumm stellen, beschloss Beatrice. Es war klar, dass Ehrmann den Braten allmählich roch und ihr keinerlei Fakten auf den Tisch legen würde. Aber wenn sie ihm noch ein oder zwei Andeutungen abringen könnte, wäre der Abend ein Erfolg gewesen.
«Wie meinst du das? Wieso blind?»
Er beugte sich vor. «Irgendetwas hast du aufgeschnappt, aber du kannst nichts damit anfangen, stimmt’s? Du versuchst, mich unauffällig auszufragen, und machst das nicht einmal schlecht, nur hast du einige Male schwer danebengehauen. In Wahrheit weißt du nicht, weswegen Gerald, Sarah und Ira sterben mussten, nicht wahr?»
Nein, nicht morgen. Sie würden ihn heute Abend noch befragen. Ihn aus seinem Hotel holen, ihm keine Chance geben, nach Deutschland zurückzufahren, bevor sie nicht ebenso viel wussten wie er. Vielleicht hätten sie morgen früh sogar schon ein Geständnis vorliegen.
«Dafür», sagte sie langsam, «weiß ich, dass Nikola in der Stadt ist. Seit heute.»
Endlich stand ihm Überraschung ins Gesicht geschrieben. «Ach? Und woher glaubst du das zu wissen?»
«Sie hat ein Posting auf Facebook abgesetzt. Zwei Zeilen aus dem ‹Panther› und ein Bild vom Platz vor dem Salzburger Bahnhof. Natürlich kann sie es auch nur vortäuschen, aber ich bin überzeugt davon, dass sie zu Iras Trauerfeier wollte, so wie du.»
Er sagte kein Wort, sah Beatrice nur an. Seine Mundwinkel zuckten, als hielte er ein Lachen zurück. «Das ist ja interessant.» Er atmete geräuschvoll aus. «Vorhin hast du noch gesagt, dass außer mir kaum jemand den weiten Weg auf sich nehmen würde, nur für eine Totenmesse. Und weißt du was? Damit hattest du recht. Aber nur damit, fürchte ich.»
Er hob die Hand, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen. «Ich glaube übrigens nicht mehr, dass Ira dir irgendein Geheimnis verraten hat, und das ist auch gut so. Sei einfach froh darüber, Tina, und lass das Rätselraten. Lass auch die Sache mit den Fotos und den Andeutungen in der Gruppe. Zu deinem eigenen Besten.» Beatrice hatte ihre Hand schon in der Tasche, um den Ausweis herauszuholen und Ehrmann zu bitten, sie aufs Kommissariat zu begleiten. Nur leider konnte sie ihn ohne Vorladung nicht zwingen, also würde er vermutlich auf der Stelle gehen. Was er vom Einschalten der Polizei hielt, hatte er ja eingangs deutlich gemacht.
Der Kellner kam mit der Rechnung. Ehrmann bezahlte für beide, trotz Beatrices Protests.
«Es ist, weil ich Nikola erwähnt habe, nicht wahr?», startete sie einen letzten Versuch. «Tut mir leid. Über sie hat Ira mir nichts geschrieben, und ich hatte auch noch keinen persönlichen Kontakt zu ihr.»
Er lachte auf. «Das war mir klar.»
Eine der ungewohnten roten Locken fiel Beatrice in die Stirn, und sie strich sie zur Seite. Die Stelle, an der die Haarnadel gegen ihre Kopfhaut drückte, war mittlerweile taub geworden, aber jetzt, da die innere Anspannung allmählich nachließ, begannen leichte Kopfschmerzen hinter ihrer linken Schläfe zu pochen.
«Danke für die Einladung.»
«Gerne. Auch wenn es für uns beide am Ende ein enttäuschender Abend war.» Beatrice lächelte angestrengt. Diesmal war sie es, die nach Ehrmanns Hand griff und sie ein wenig länger hielt, als es zum Abschied nötig gewesen wäre. Da war
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