Blinde Voegel
– aber da war so viel Blut, und …» Sie brach ab und legte die Hände vors Gesicht.
«Vielleicht könnt ihr etwas zu trinken für sie besorgen», bat Beatrice einen der Polizisten. «Am besten etwas Warmes. Mit ein bisschen Glück kochen die Klosterbrüder ihr sogar einen Tee?»
Sie sah sich nach Florin um, doch der musste bereits auf dem Weg zum Fundort sein.
Der Kollege deutete nach links, wo sich im grauen Licht des anbrechenden Tages die drei hohen Kreuze unter ihrem steinernen Baldachin gegen den Himmel abzeichneten. «Nehmen Sie den Weg außen herum, nicht über die Treppen», sagte er. «Sie wissen schon. Wegen der Spuren.»
Ja, sie wusste. Ein plötzlicher Windstoß fegte ihr das Haar ins Gesicht, und sie zog ihre Jacke enger um den Körper. Hoffentlich war es ein Unfall, dachte sie. Dieser Wunsch war rein egoistisch, wie sie sich verlegen eingestand, aber sie hatten schon jetzt so viel um die Ohren. Die Vorstellung, eine weitere Baustelle eröffnen zu müssen, machte ihr das Atmen schwer.
Bei dem Laternenmast am Fuß der Treppe, die zur Kreuzigungsgruppe führte, hatten sich zwei Streifenpolizisten, Florin und Vogt versammelt. Letzterer streifte sich eben Handschuhe über. War Drasche noch gar nicht da?
Im Näherkommen sah sie, dass Florin blass wirkte.
«Kaspary!», rief Vogt ihr entgegen. «Wollen Sie einen schnellen Blick riskieren, bevor ich loslege?» Demonstrativ holte er Skalpell und Fieberthermometer aus seiner Tasche.
«Guten Morgen. Das will ich auf jeden Fall. Und wir sollten besser auf die Spurensicherung warten.»
«Ach was. Ich bewege ihn ja nicht.» Mit einer einladenden Bewegung deutete Vogt auf den dunklen Schatten am Fuß der Treppe. Sie ging näher.
«Bea –», begann Florin, doch da hatte sie es schon begriffen. Ihn erkannt. An der braunen Lederjacke und am jugendlichen Haarschnitt, der ihm sicher Pluspunkte bei seinen Schülern eingebracht hatte. Der Anblick einer Leiche war nur schwer zu ertragen, wenn man jemanden kannte, und noch schwerer, wenn man erst wenige Stunden zuvor zusammen zu Abend gegessen hatte. Ihr nächster Atemzug mündete in ein nicht enden wollendes Husten, sie hielt sich beide Hände vor den Mund, lehnte sich mit der Schulter gegen den Laternenmast und fühlte erst, als sie langsam zu Atem kam, Florins Hand, die ihr leicht auf den Rücken klopfte.
«Ehrmann», brachte sie hervor, als sie wieder Luft bekam. «Mein Gott.»
Oben beim Kloster heulte ein Motor auf und wurde dann abgewürgt. Drasche war angekommen und würde in wenigen Minuten hier das Regiment übernehmen.
Beatrice zwang sich, näher an den Toten heranzutreten. So, wie er dalag, war theoretisch ein Unfall denkbar. Wenn er auf den Treppen zur Kreuzigungsgruppe ausgerutscht war, konnte er unglücklich gefallen sein und sich das Genick gebrochen haben. Aber praktisch wusste sie, dass es nicht so war. Die «hässliche Sache» hatte ein weiteres Menschenleben gekostet.
Noch zwei Schritte. Nun konnte sie seine Gesichtszüge erkennen. Er war es, kein Zweifel. Das freundliche Gesicht, das sie schon auf seinem Profilfoto so anziehend gefunden hatte.
Pass auf dich auf, Tina, und denke an das, was ich dir gesagt habe.
Das Blut war in einem Rinnsal von seinem Kopf zum Fuß der Kreuzwegskapelle geflossen, sie sah es jetzt. Die rechte Schläfe war richtiggehend eingedrückt, mit einer klaffenden Wunde als tiefster Stelle.
Ihr eigener Atem klang laut in ihren Ohren. Wenn sie offen mit ihm gesprochen hätte, ihn überzeugt hätte, dass es besser war, mit der Polizei zu kooperieren … Himmel, sie hatte so viele Möglichkeiten gehabt. Nicht innerhalb dessen, was ihr erlaubt war, doch wen kratzte das angesichts des Todes?
«Weg da, Kaspary.»
Es blitzte. Drasche bediente heute selbst die Kamera, was ungewöhnlich war, aber Beatrice hatte keine Lust zu fragen, wo Ebner steckte. Es war egal, alles, außer dass sie nicht vorausschauend genug gewesen war, um Dominik Ehrmann zu retten.
Jemand zog sie am Ellenbogen zurück. Florin, natürlich. Unwillig machte sie sich frei. «Es geht schon.»
«Das hier ist nicht deine Schuld, Bea.»
«Was du nicht sagst», entgegnete sie schroff. «Ich habe ihn nicht erschlagen, das weiß ich selbst. Aber geschützt habe ich ihn leider auch nicht.»
«Dachtest du denn, dass das notwendig sein würde? Schützen wir Helen Crontaler? Oder Christiane Zach?»
«Nein, aber …» Es hatte keinen Sinn, weiter zu argumentieren. Sie ließ sich von Florin zurück auf den
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