Blinde Voegel
wirkt am besten in seiner Gesamtheit.
Boris Ribar Tina, erklärst du uns, wieso du das Bild eines Klosters dazugestellt hast?
Du liebe Zeit, da war Ribar etwas aufgefallen, was sie selbst gar nicht bedacht hatte. Für jemanden, der wusste, was heute Morgen am Kapuzinerkloster geschehen war, mochte das ein verräterischer Hinweis sein. Ribar fand Tina Herbert ohnehin schon verdächtig, fehlte nur noch, dass er anrief und seine Beobachtung meldete. Wo er doch der Meinung war, an ihm sei ein Polizist verlorengegangen.
«Du liegst vielleicht gar nicht so daneben, Boris», murmelte sie. «Gute Kombinationsgabe, jedenfalls.»
Blieb abzuwarten, ob noch jemand anders diese Doppelfalle bemerkt hatte. Panther und Kloster, das war überdeutlich.
Ren Ate Irgendwie ist das Gedicht aggressiv. Von Heine gibt es viel schönere Sachen.
Phil Anthrop Ich habe eben das ganze Gedicht im Netz gesucht – kann mir nicht helfen, auf mich wirkt es, als wäre Heine beim Schreiben besoffen gewesen.
Nikola DVD Ich kannte es noch nicht und finde es bereichernd. Danke, Tina.
Olga Gross-Mikel Hallo, Tina, ich bin neu hier. Ich finde, du hast eine sehr interessante Stelle ausgesucht. Sprachlich stark. Danke und liebe Grüße aus Rüsselsheim.
Nikola hatte sich wieder gemeldet, den Panther im Heine-Gedicht aber mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen hatte sie einen Kommentar abgesetzt, der harmlos wirkte und aus dem Beatrice eine Einladung herauszuhören meinte.
Es war einen Versuch wert. Nikola hatte nach wie vor ihre Freundschaftsanfrage nicht angenommen, aber das würde Tina nicht daran hindern, ihr eine persönliche Nachricht zu schicken.
Hallo! Sag mal, bist du zurzeit in Salzburg? Ich dachte nämlich, weil du letztens ein Foto vom Bahnhofsvorplatz gepostet hast. Ich wohne ja hier und würde mich freuen, dich zu treffen. Hast du Lust auf gemeinsames Kaffeetrinken und Rilke-Diskutieren? Liebe Grüße, Tina.
Sie wartete. Hoffte insgeheim, dass Nikola sofort auf die Einladung anspringen würde, aber das schien nicht ihre Art zu sein. Nach fünf Minuten klickte Beatrice die Seite weg und widmete sich widerwillig dem Bericht, den sie über Ehrmanns Tod schreiben musste.
Um drei Uhr rief Vogt an. «Ich habe ihn am Tisch, wollen Sie einen ersten Eindruck?»
«Sicher.»
«Der rektalen Temperatur nach zu schließen, ist er zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens gestorben. Er hat mindestens drei heftige Schläge abbekommen, von denen einer ihm ein offenes Schädel-Hirn-Trauma beschert hat. Der Mann hat massiv Blut und Liquor verloren, aber was genau den Tod herbeigeführt hat, zeigt sich erst im MRT, denke ich.»
«Kommt als Täter auch eine Frau in Frage? Wie würden Sie das einschätzen?»
Er zögerte. «Ich will mich nicht festlegen, aber mein Geld würde ich eher auf einen Mann setzen. Die Schläge sind mit Schwung und enormer Wucht geführt worden. Aber natürlich gibt es Frauen, die dazu körperlich in der Lage sind, ausschließen würde ich es also nicht.»
«Danke.»
«Eines interessiert Sie vielleicht noch: Ich habe Verletzungen an Armen und Händen gefunden, vier Finger dürften gebrochen sein. Wenn Sie mich fragen, hat es einen Kampf gegeben, den Ehrmann verloren hat.»
Das erste Opfer, das sich gewehrt hatte? Oder ließ die Vorsicht des Täters nach? Lag ihm nichts mehr daran, seine Morde wie Suizide aussehen zu lassen?
«Danke, Doktor Vogt. Halten Sie mich bitte weiter auf dem Laufenden.»
Erst am Abend kam Beatrice dazu, sich ihr Gespräch mit Ehrmann noch einmal vorzunehmen. Sie scheute sich beinahe davor, die Play-Taste zu drücken. Alles würde viel schicksalhafter klingen, nun, da er tot war. Wie ein Vermächtnis. Wahrscheinlich war sie die letzte Person gewesen, mit der er gesprochen hatte, seinen Mörder ausgenommen.
Es war dann auch mehr Pietät als Vorsatz, der Beatrice das Gespräch noch einmal in voller Länge anhören ließ. Letzte Worte vorzuspulen, das kam ihr respektlos vor. Sie saß im Schneidersitz auf ihrer abgenutzten Couch, auf der sie Florins Bettwäsche zu einem ordentlichen Stapel gefaltet hatte, und suchte nach der versteckten Bedeutung von Ehrmanns Sätzen. Das, worauf sie wartete, würde erst gegen Ende gesagt werden. Zu dem Zeitpunkt, als Ehrmann zu begreifen begann, dass Tina Herbert ihm kein Geheimnis offenbaren konnte.
Das Klappern des Bestecks und die Gespräche von den Nebentischen, die nicht mehr waren als ein dumpfer Klangteppich, ließen den Abend des Vortags sofort wieder greifbar
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