Blinde Voegel
werden. Gestern erst. Für Beatrice fühlte es sich an, als seien seitdem mindestens drei Tage vergangen.
Ehrmanns Komplimente. Sein behutsames Vortasten, dem sie nicht nachgegeben hatte. Nicht an die Blutlache und den eingedrückten Schädel denken. Konzentrieren.
Es dauerte eine knappe Stunde, bis der Teil kam, von dem sie sich Erkenntnisse erhoffte oder wenigstens eine neue Perspektive. Sie musste nur begreifen, mit welchen Worten sie sich ins Aus geschossen hatte.
«Tina Herbert, bist du hier, um mich aus der Reserve zu locken, hm? Will mir da jemand eine reizvolle Falle stellen?»
Stopptaste. Konnte das eine Anspielung auf – wie sollte sie es nennen? Auf eine gegnerische Partei sein? Hatte es tatsächlich eine Falle gegeben, die ein paar Stunden später zugeschnappt war?
Weiter. Der Kellner kam, bot ihr Wein an, sie lehnte ab, um sich dann wieder an Ehrmann zu wenden, schroff diesmal. «Ich habe keine Ahnung, wo du eine Falle witterst. Du wolltest mich unbedingt treffen, nicht ich dich. Aber wir können gerne einen Schlussstrich unter den heutigen Abend ziehen und uns verabschieden.»
Er hatte sie zurückgehalten und die Frage gestellt, auf die Beatrice keine Antwort gewusst hatte.
«Warum hat Ira das Bild von der Tankstelle gepostet? Und was hat das dazugehörige Gedicht zu bedeuten?»
Wieder die Stopptaste. Zurückspulen. Noch einmal anhören.
Das Notebook wartete aufgeklappt auf dem Couchtisch, schon deshalb, weil Beatrice das Einschlagen von Ehrmanns Todesnachricht in der Gruppe nicht verpassen wollte. Bisher war nichts passiert, zu ihrem großen Erstaunen.
Der Beitrag mit dem Tankstellenfoto war weit, weit nach unten gerutscht, aber sie fand ihn.
Patrouille
Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
Gellen
Tod.
Das Foto war nicht mehr als ein schlechter Schnappschuss. Eine Frau war gerade mit Tanken fertig und bemerkte, dass sie fotografiert wurde. Das Kennzeichen ihres schwarzen Golfs war gut erkennbar – SL stand für Salzburg Land und ließ darauf schließen, dass sie im Flachgau zu Hause war.
Vielleicht war es sinnvoll herauszufinden, auf wen der Wagen gemeldet war. Hatte Ira das Bild der Frau wegen gepostet, die sich nur zufällig gerade an der Tankstelle befand? Beatrice vergrößerte das Foto und studierte den Gesichtsausdruck der Abgebildeten. Sie wirkte irritiert, aber nicht wütend oder erschrocken. Nicht, als hätte sie etwas zu verbergen.
Und dann dieses Gedicht, dieser Kontrapunkt zu der alltäglichen Szene im Foto. Beatrice machte sich schlau – «Patrouille» war von August Stramm geschrieben worden, einem deutschen Expressionisten, der jung gestorben war.
Gefallen, genauer gesagt. Im Ersten Weltkrieg. Das zu wissen, gab der Angst, die Beatrice aus jeder seiner kurzen Zeilen entgegensprang, neues Gewicht.
Möglicherweise war es dieses Gefühl, aus dem heraus Ira das Gedicht gepostet hatte. Angst.
Stramm hatte jeden Grund dafür gehabt, der Krieg hatte ihn das Leben gekostet, das traf auf Ira nicht zu, sie war in einem friedlichen Land aufgewachsen, dank ihrer Mutter.
Beatrice schloss kurz die Augen. Dank einer Mutter, die Selbstmord begangen hatte. War es denkbar, dass Ira den Krieg ansprach, vor dem Adina Sagmeister geflohen war, den sie aber vielleicht den Rest ihres Lebens in sich getragen hatte?
Sie spulte noch einmal die Aufnahme zurück. Ja, Ehrmann legte mehr Betonung auf die Frage nach dem Gedicht als auf die nach dem Foto. Wenn Beatrice sie mit «weil es vom Krieg handelt» beantwortet hätte – wer weiß.
Trotzdem ergab das immer noch keinen Sinn. Pallauf und Beckendahl waren ebenfalls tot, obwohl weder sie noch ihre Eltern je mit kriegerischen Handlungen in Berührung gekommen waren. Bei Dulović konnte man es nicht wissen – er war im früheren Jugoslawien geboren, es bestand also eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Aber nach allem, was Beatrice in Erfahrung hatte bringen können, gab es keine Berührungspunkte zwischen ihm und Adina Sagmeister.
Sie hörte sich selbst seufzen. Noch war sie längst nicht an dem Punkt, an dem ein Vorhang sich öffnen und ein stimmiges Bild zeigen würde. Beatrice ließ die Aufnahme weiterlaufen und hörte Ehrmann auf ihre Frage nach Sarah Beckendahl antworten. Es war nicht besonders ermutigend, dass auch er keine Ahnung hatte, wie das Mädchen in diese Geschichte hineingeraten war. Hingegen fand er es nicht verwunderlich, dass sie ausgerechnet Gerald Pallauf aufgesucht hatte, er
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