Blinde Voegel
Lächeln im Gesicht. «Es ist für mich das zweite Mal, wissen Sie? Und nie sehe ich es kommen.»
«Das zweite Mal? Heißt das, Iras Mutter hat …»
«Auch Selbstmord begangen. Ja. Vor einem Jahr, und das hat Ira furchtbar getroffen. Und ich – ich Idiot, ich dachte, es würde langsam besser werden. Dass sie sich erholt. Vor einem halben Jahr hat sie gesagt, dass sie endlich wieder ein Ziel hätte, für das das Weitermachen sich lohnt.» Er schluchzte auf. «Und ich habe ihr geglaubt. Habe mich so gefreut.»
Beatrice zögerte, dem Mann eine Hand auf den gekrümmten Rücken zu legen. Dann tat sie es doch; schlimmstenfalls würde er sie abschütteln.
«Wissen Sie, was für ein Ziel das war?»
Seine Hände rutschten tiefer, bis die hellblauen, rot geränderten Augen sichtbar wurden. «Nein. Ich habe sie gefragt, aber sie hat es mir nicht sagen wollen. ‹Wenn es geklappt hat, dann erzähle ich dir alles. Ach was, dann wirst du es in der Zeitung lesen›, hat sie gesagt.»
Das war ja interessant. «Klingt nicht, als hätte es mit ihrem Studium zu tun gehabt.»
Er zuckte kraftlos die Schultern. «Stimmt. Aber jetzt spielt es keine Rolle mehr. Vielleicht war es auch nur eine Laune, eine kurzlebige Idee von ihr. Sie hat später nie wieder von diesem angeblichen Ziel gesprochen, trotzdem habe ich gehofft, dass es etwas gibt, was sie aufrechthält.» Er ließ die Hände auf die Tischplatte sinken, hielt sie aber keine Sekunde lang ruhig. Seine Finger betasteten die glatte Oberfläche, als wäre etwas in Blindenschrift darauf geschrieben. «Haben Sie Kinder, Herr …»
«Wenninger», half Florin ihm aus.
«Herr Wenninger. Sind Sie Vater?»
«Nein, leider nicht.»
«Aha.» Sagmeister hatte die Augen starr auf seine Hände gerichtet. Florins kaum sichtbares Kopfschütteln gab Beatrice zu verstehen, dass sie nicht nachfragen sollte. Es gab wichtigere Dinge zu klären.
«Ich würde gerne etwas mehr über Iras Leben wissen», sagte er. «Hatte sie einen festen Freund?»
«Nein. Nicht mehr. Sie hatte einen, aber nach dem Tod ihrer Mutter hat Ira Schluss gemacht. Ich glaube nicht, dass sie danach noch mal mit jemandem zusammengekommen ist. Erwähnt hat sie niemanden und … sie hat sich völlig in ihrer Wohnung abgekapselt. Ist nur selten rausgegangen.»
«Können Sie uns den Namen dieses Exfreunds sagen?»
«Tobias … warten Sie, Tobias Eilert. Oder Eilig? Tut mir leid, ganz genau weiß ich es nicht mehr. Ein netter Kerl, er war völlig verzweifelt, als Ira ihn nicht mehr sehen wollte.»
Florin schrieb den Namen unter seine Notizen, doppelt unterstrichen. «Fallen Ihnen noch andere Leute ein, mit denen Ira häufiger Kontakt hatte?»
«Nein. Sie hat von niemandem erzählt. Der Tod ihrer Mutter hat sie so sehr verändert, Sie können sich das nicht vorstellen.» Er hielt kurz inne. «Um genau zu sein, war sie sogar schon eine Woche vorher nicht mehr dieselbe. Als hätte sie geahnt, was passieren würde. Ich habe noch mit Adina darüber geredet, es war eines unserer letzten Gespräche, bevor sie – aber das spielt ja jetzt keine Rolle mehr.»
Der Ansicht war Beatrice gar nicht. «Adina war der Name Ihrer Frau?»
«Ja. So wunderschön wie sie selbst.»
Zu ihrem Selbstmord würde sich eine Akte finden lassen, keine Frage.
«Kann ich jetzt mein Kind sehen? Bitte.»
Florin nahm innerlich Anlauf, Beatrice erkannte es daran, wie er seinen Rücken straffte und die Hände ineinander verschränkte. «Ira ist nicht hier, Herr Sagmeister. Ich verstehe Ihren Wunsch, sie sehen zu wollen, sehr gut, glauben Sie mir. Aber ich möchte Ihnen trotzdem davon abraten.»
Sagmeister begriff, natürlich begriff er. Neue Tränen strömten über sein Gesicht. «Es ist mein Recht.»
«Das ist es. Ich bitte Sie nur, noch eine oder zwei Nächte über Ihre Entscheidung zu schlafen.» So wollen Sie sie nicht in Erinnerung behalten , lag unausgesprochen in der Luft. Und glauben Sie nicht, dass Sie die Bilder je wieder loswerden, wenn Sie sie erst gesehen haben.
«Ich bin ganz seiner Meinung», sagte Beatrice und streichelte sanft über den Rücken des Mannes. «Geben Sie sich Zeit, darüber nachzudenken.» Es würde vielleicht gehen, wenn der Bestatter ein kleines Meisterwerk vollbrachte. Iras Körper würde von Kleidung zusammengehalten werden, und ihr Gesicht war nicht allzu sehr entstellt.
«Es kann nicht so schrecklich sein wie in meiner Phantasie», flüsterte Sagmeister.
Doch, das kann es.
«Im Moment wäre es ohnehin nicht
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