Blinde Wahrheit
mutmaßlichen Täter, noch nicht einmal ein paar mögliche Verdächtige. Keine Fingerabdrücke. Keine Gewebereste. Keine Körperflüssigkeiten.
Es war, als hätte ein Geist die Leiche auf Reillys Grundstück gelegt.
Ein Geist.
Oder ein Bulle …
Es musste jemand sein, der ziemlich genau wusste, wie man eine Leiche säuberte, so viel stand fest. Andererseits konnte sich heutzutage jeder, der einen Internetanschluss hatte, ausführlich in das Thema Spurensicherung einlesen.
»… Und?«
Mit finsterer Miene schaute Nielson zu Prather auf. »Hören Sie, ich würde einen Haftbefehl für Reilly niemals bei der Staatsanwaltschaft durchkriegen. Selbst wenn ich ihn für schuldig hielte, was ich nicht tue. Falls Sie noch etwas anderes zur Sprache bringen möchten, dann tun Sie das bitte jetzt. Also?«
»Vielleicht war es eine Gemeinschaftstat«, schlug Prather mit zusammengekniffenen Augen vor.
»Eine Gemeinschaftstat?«, wiederholte Jennings mit hochgezogener Augenbraue und schmunzelte leicht.
Klasse. Jennings mochte das ja ganz amüsant finden, Nielson sah das jedoch anders. »Um Himmels willen«, knurrte er, warf seinen Stift auf den Tisch und stand auf. Wütend starrte er Prather an und beugte sich vor. »Haben Sie die Frau gesehen, die bei ihm zu Besuch ist? Nehmen wir nur mal so zum Vergnügen für einen Augenblick an, dass er so eine Art Psychokiller ist. Halten Sie ihn wirklich für dämlich genug, einen Mord zu begehen, während er eine junge Frau zu Besuch hat? In dem Fall würde er allein sein wollen, Prather. Begreifen Sie das? Allein.«
»Dem Kerl ist alles zuzutrauen. Vielleicht hat er sie ins Haus geholt, um den Verdacht von sich zu lenken.«
»Verlassen Sie mein Büro, Prather. Sofort.«
Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und starrte auf den Schreibtisch, während er darauf wartete, dass die Tür zuknallte. Ein paar Sekunden später geschah es. Als er aufschaute, begegnete er Keiths Blick.
»Dieser Mann bereitet einem mit jedem verdammten Tag mehr Ärger.«
Keith setzte zu einer Antwort an, schwieg dann aber.
Nielson hob eine Augenbraue. »Ja, bitte?«
»War das eine Feststellung oder fragen Sie mich nach meiner Meinung?«
»Eigentlich sollte ich mir beides verkneifen.« Seufzend fuhr sich der Sheriff mit den Händen übers Gesicht. »Dieser ganze Mist macht mich einfach fertig.«
»Das ist doch nur normal. Alles andere wäre in dieser Situation seltsam, oder?«, gab Keith zu bedenken.
»Ja, stimmt.« Nielson rieb sich die Nasenwurzel und schaute dann erneut sein Gegenüber an. »Glauben Sie, dass an Prathers Gefasel irgendwas dran ist?«
Keith fragte sich, wie offen er antworten durfte. Er stand auf und verschränkte geistesabwesend die Hände hinter dem Rücken. Obwohl seine Militärzeit Jahre zurücklag, hatte er manche Angewohnheiten noch immer nicht abgelegt. »Darf ich ganz ehrlich sein, Sheriff?«
»Wenn ich nicht Ihre ehrliche Meinung hören wollte, hätte ich Sie nicht danach gefragt«, erwiderte Nielson.
»Meiner Ansicht kommen Prather nie irgendwelche sinnvollen Ideen, es sei denn, jemand hat eine für ihn, wickelt sie ein und präsentiert sie ihm mit einer großen, glänzenden Schleife drum.«
Einen Moment lang starrte Nielson ihn einfach nur an. Dann fing der Mann an zu glucksen. »Da haben Sie wahrscheinlich recht. Meine Güte.« Er betrachtete wieder die Berichte auf seinem Schreibtisch und seufzte. »So ein Schlamassel.«
»Allerdings.« Keith ließ den Blick zu der Pinnwand mit dem Foto des Opfers wandern. Die Frau war hübsch gewesen. Glücklich. Ihr ganzes Leben hatte noch vor ihr gelegen. All diese strahlende Hoffnung … vorbei.
»Ein Trauerspiel ist das«, murmelte Nielson.
Wie Keith feststellte, betrachtete der Sheriff ebenfalls gerade ihr Gesicht. »Ja«, sagte er leise. »Ein Jammer.«
Unvermittelt seufzte Nielson und wandte sich wieder seinen Unterlagen zu. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als alles noch mal durchzugehen. Ich muss etwas übersehen haben.«
»Wenn Sie mir den Obduktionsbericht geben, sehe ich den noch mal durch.«
Stille trat ein, bis Nielson schließlich ein Grummeln von sich gab. »Ja, tun Sie das. Ich muss noch eine E-Mail schreiben.«
Offenbar hatte sein Tonfall Jennings aufhorchen lassen.
»Eine E-Mail?«
»Ja.« Nielson schluckte trocken und sah zur Pinnwand, betrachtete Jolenes hübsches Lächeln … und das entstellte Gesicht daneben. »An ihre nächste Verwandte. Die Dame ist momentan im Ausland. Ich habe endlich
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