Blinde Wahrheit
aus dem Bett und tastete auf dem Fußboden herum. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Ihr brach der eiskalte Angstschweiß aus. Erneut horchte sie in Richtung Fenster.
Zweige knackten. Ein Stöhnen erklang, erstarb. Dann war wieder alles still.
Wo ist das verfluchte Telefon?
Sie machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Schluchzer und Knurren klang, streckte dann die Hand aus, um unters Bett zu greifen, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie mit den Fingern gegen Plastik stieß. Eilig krabbelte sie zur Zimmerwand, drückte sich mit dem Rücken dagegen und lauschte, wobei sie das Telefon fest umklammert hielt.
Ruf die Polizei, verflucht! Lena versuchte, die Finger zu bewegen, aber sie waren vor Angst völlig verkrampft.
Von draußen war nichts mehr zu hören. Rein gar nichts … Doch, Moment! Da! Jetzt nahm sie es wahr, aber sehr, sehr leise … Irgendjemand schlich vorsichtig zwischen den Bäumen umher.
Wenn die Entfernung vom Wald bis zu ihrem Haus auch nur etwas größer gewesen wäre, wenn sie näher an der Stadt gewohnt hätte … Verdammt, selbst wenn bloß ihr Radio an gewesen wäre, hätte sie es niemals gehört. So unglaublich leise war es …
Plötzlich ertönte ein weiterer kurzer, lauter Aufschrei, der abrupt endete. Das reichte, um Lenas Finger in Bewegung zu setzen, sie wählte den Notruf.
Puck gab einen harschen, kehligen Laut von sich und stupste ihr mit der Schnauze gegen die Wade. Sie klopfte neben sich auf den Boden, und als sie seinen großen, warmen Körper an ihrem Bein spürte, legte sie den Arm um ihn.
»Notrufzentrale, was möchten Sie melden?«
»Ich … ich höre Schreie. Eine Frau ruft um Hilfe.«
Es dauerte nur wenige Minuten, zehn vielleicht. Rein objektiv betrachtet wusste sie, dass nicht viel Zeit vergangen sein konnte, bis sie die Sirenen hörte, aber es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Zu lang. Zu viel Zeit war vergangen.
Sie hatte die Frau nicht wieder gehört … Was, wenn es mittlerweile zu spät war?
Es mochten dreißig Minuten seit Ankunft der Polizei vergangen sein. Es konnte sich jedoch genauso gut um drei Stunden handeln.
Wahrscheinlich lag die Wahrheit wie immer irgendwo dazwischen, aber Lena war außerstande, es genau zu sagen.
Es fiel ihr verdammt schwer, sich zu konzentrieren.
Da war niemand, der um Hilfe hätte schreien können.
Keine Frau.
Keine verlassenen Fahrzeuge am Straßenrand.
Keine Autowracks.
Absolut nichts.
Sie hatten keine Menschenseele gesehen und auch nichts gefunden.
Aber sie hatte jemanden gehört.
»Miss Riddle?«
Lena schloss die Finger um ihren Kaffeebecher fester. »Sergeant … Jennings, richtig?« Sie lächelte matt. »Sie sind wahrscheinlich mit der halben Stadt verwandt.«
»Ja, Ma’am. Ich bin Keith Jennings, falls Ihnen das weiterhilft.«
Sein leicht neckischer Tonfall ließ sie lächeln. »Ein bisschen.« Sie seufzte und fuhr sich durchs Haar. »Wenn der halbe Bezirk auf den Namen Jennings hört, ist jeder noch so kleine Informationsbrocken hilfreich.«
»Na ja, um ehrlich zu sein, ist es wohl nur ein Viertel des Bezirks … Und ich bin ein ziemlich entfernter Verwandter.«
Er lächelte ein wenig. Sie konnte es an der Art, wie er sprach, hören. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass es hier auch Leute gibt, die nicht mal entfernt mit den Jennings verwandt sind?« Der Clan schien so gut wie ganz Ash zu besitzen.
»Tja, Sie gehören jedenfalls nicht dazu.«
»Stimmt.« Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr und seufzte abermals. »Haben Sie … ähm … war da irgendjemand … «
»Es tut mir leid, aber wir konnten nichts finden.« Er schwieg einen Augenblick lang, dann räusperte er sich. »Darf ich mich setzen?«
»Oh, natürlich. Entschuldigen Sie. Ich … «
»Schon gut. Ist ja auch schon spät.«
Sie hörte, wie der Schaukelstuhl neben ihr knarrte, als er sich daraufsetzte.
»Einen hübschen Hund haben Sie da, Miss Riddle. Wie hieß er noch mal?«
»Puck.«
»Schönes Tier.«
Sie hörte ihn mit den Fingern schnipsen und musste lächeln. Mit einer Hand auf dem Hundegeschirr sagte sie: »Er wird nicht zu Ihnen kommen, solange er an der Leine ist. Er ist im Dienst.« Sie rückte sich die Sonnenbrille auf ihrer Nase zurecht.
»Oh, tut mir leid.«
»Kein Problem. Konnten Sie ja nicht wissen.«
Er kicherte. »Wahrscheinlich machen das die Leute öfter.«
»Einige schon.« Lena zuckte mit den Schultern. »Hier in der Gegend allerdings nicht so viele. Jedenfalls nicht mehr. Langsam kennen
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