Blinde Wahrheit
bewegte. Er kannte den Wald wie seine Westentasche, kannte all die Pfade, wusste, wo umgefallene Baumstämme, freiliegende Wurzeln oder andere Gefahren lauerten, um den Unvorsichtigen zu Fall zu bringen. Seit Jahren schon benutzte er diese Wege – einige seiner schönsten Erlebnisse hatten in diesem Wald stattgefunden.
Sie war hübsch, dieses neue Mädchen. Hübsch, gescheit, aber ein bisschen widerspenstig. Selbst nach einer Woche setzte sie sich noch zur Wehr. Kämpfte. Versuchte sogar, wegzulaufen. Und sie lief so wunderbar, mit ihren nackten, muskulösen Beinen. Kräftig war sie. Er ließ die Zunge durch seine Mundhöhle wandern, fühlte über die offene Wunde, wo er sich auf die Innenseite seiner Wange gebissen hatte, als ihm vor ein paar Tagen von ihr der Hinterkopf gegen das Kinn gerammt worden war.
Er hatte darauf geachtet, dass sie aß und trank, auch wenn er die Mahlzeiten förmlich in sie hatte hineinzwingen müssen. Doch was für eine Verschwendung wäre es gewesen, wenn Hunger oder Flüssigkeitsmangel sie geschwächt hätten. Obwohl er aufgrund der derzeitigen Geschehnisse zugeben musste, dass sie ihm wohl kaum entkommen wäre, wenn er sie nicht so gefüttert hätte. In dem Fall würde sie nun wohl auch nicht schreiend durch den Wald rennen.
Er hatte ihren Willen nicht brechen können, und das gab ihr die Stärke zu laufen.
Und dennoch – auch wenn es aktuell mehr Arbeit für ihn bedeutete, es machte Spaß. Eine Menge Spaß sogar. Das Blut jagte ihm durch die Adern und sein Schwanz war dermaßen hart, er war so erregt, dass es schmerzte. An diesem Abend würde er noch viel mehr Spaß mit ihr haben.
Er hörte, wie sie vor ihm einen Schrei ausstieß.
»Hilfe!«
Er musste lachen, lauschte, wie sie sich durchs Dickicht kämpfte. Höchstwahrscheinlich versuchte sie, das Haus zu erreichen. Hin und wieder sah er die Verandalampen zwischen den Bäumen aufblitzen, bevor sie hinter der nächsten Wegbiegung wieder aus seinem Blickfeld verschwanden. Doch bis dorthin war es noch ein ganzes Stück. Er würde sie einholen, bevor sie noch näher an das Haus herankam. Und das musste er auch. Seine Spielchen waren ihm zu lieb, als dass er ein solches Risiko eingehen konnte.
Auf Höhe eines breiten Baumes bemerkte er etwas Glitzerndes auf dem Waldboden. Er runzelte die Stirn, als er feststellte, dass das fahle Mondlicht von einer Halskette reflektiert wurde.
Dieses feine Schmuckstück hatte er schon einmal gesehen – es gehörte seinem Mädchen.
Er hob die Kette auf, ließ sie in seine Tasche rutschen und unterdrückte ein wütendes Knurren. Es wäre gar nicht gut gewesen, wenn die Kette hier liegen geblieben wäre. Äußerst schlecht sogar.
Dafür würde er ihr einen Denkzettel verpassen.
Wenn ihr kleines Spielchen vorbei war. Und apropos Spiel, langsam wurde es Zeit für ein neues.
Es war still geworden. Er hob den Kopf und lauschte, ob er sie durch den Wald rennen, Zweige brechen oder Laub rascheln hörte.
Aber da war nichts.
Sie gab keinen Mucks von sich.
»Spielen wir jetzt Verstecken?«, fragte er, verließ den Pfad und schlug langsam einen Bogen. »Hab ich gewonnen, wenn ich dich finde?«
Ein Geräusch erklang. Er wandte den Kopf und spitzte die Ohren. Es war nur schwach, aber er konnte ein leises Stöhnen vernehmen. Ein unregelmäßiges Keuchen, während sie nach Atem rang. Leise, aber nicht leise genug.
Lachend ging er dem Geräusch nach.
»Eins, zwei, drei – ich komme!«
Er hatte nicht gewusst, dass es so viel Spaß machen würde, sie zu jagen.
All die Möglichkeiten, die sich dabei auftaten …
Doch die Stimme der Vernunft riet ihm zur Vorsicht. Es wäre nicht klug, seinen Plan so grundlegend zu ändern. Nicht jetzt.
Lena träumte.
Sie wusste es, und sie musste sich eingestehen, dass es ein verdammt schöner Traum war.
Sie konnte sehen. Sie hatte noch deutliche Erinnerungen aus jener Zeit, bevor sie völlig erblindet war, und manchmal durchlebte sie diese noch einmal, während sie schlief.
Doch dieser Traum war gar nicht einmal so übel.
Sie befand sich draußen. Die Sonne schien auf sie herab, und die Strahlen durchfluteten sie mit Wärme. Dann wandte sie das Gesicht gen Himmel und schaute in die Sonne, bis ihre Augen zu tränen und zu brennen anfingen.
»Du solltest lieber nicht in die Sonne gucken.«
Die Stimme klang leise, rau … sexy. Und so vertraut.
Es war Ezra. Der Mistkerl.
Konnte er sie nicht wenigstens in ihren Träumen in Ruhe lassen?
Lena hatte eine Schwäche
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